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nds 1-2015
Ausgliederung und die Unterschiede rücken
in denVordergrund.
Sinnvoller wäre es, die Kinder zu bitten,
ihr Lieblingsessen mitzubringen, ohne vorher
kulturelle Aspekte zu thematisieren. Sie kön-
nen im Nachhinein reflektiert werden, mit
einem deutlichen Fokus auf den Gemeinsam-
keiten. Dabei werden insbesondere kulturelle
Verflechtungen auf der Ebene der Esskultur
zu beobachten sein. SchülerInnen „ohne Mi-
grationshintergrund“ damit zu konfrontieren,
dass das ihnen zugeschriebene typische Essen
Sauerkraut mit Eisbein sein könnte, kann hier
dazu dienen, die Funktion und Begrenztheit
kultureller Vorurteile zu thematisieren.
EinmodernerKulturbegriff für eine
moderneMigrationspädagogik
Migrationspädagogischen Überlegungen
liegt ein dynamisches und relatives Kulturver-
ständnis zugrunde. In modernen Migrations-
gesellschaften sind kulturelle Verflechtungen
fortlaufend imWandel. Wenn von „der“ inter-
kulturellen Identität die Rede ist, ist durch-
aus Misstrauen angebracht, denn sie ist ein
relatives Konstrukt. Die Herausforderung be-
steht deshalb darin, den ethnisch-kulturellen
Identitätsanteil nicht überzubewerten. In die-
sem Kontext ist auch das Konzept der Trans-
kulturalität bedeutsam, das von kulturellen
Durchdringungen und Verflechtungen ge-
kennzeichnet ist undMenschen als „kulturelle
Mischlinge“ sieht, ohne eine kulturelle Homo-
genisierung zu verfolgen.
Im Sinne einer derartigen Migrationspä-
dagogik werden die vielfältigen Lebenserfah-
rungen und -realitäten anerkannt. Eigene,
kulturbedingte Selbstverständlichkeiten und
Normalitätsvorstellungen werden hinterfragt.
Deutungen und Handlungsmuster der eige-
nen, kulturellen Gruppe oder Person reflek-
tiert. So bleibt Raum für unterschiedliche Be-
deutungen, Verständnisse und Widersprüche
von Kultur und eine kritische und erfahrungs-
orientierte Auseinandersetzung mit kultureller
Norm(alität) erfolgt. Die machtvolle Unter-
scheidung zwischen „Wir“ und „Nicht-Wir“ wird
fortlaufend infrage gestellt – ein Ansatz, der
die Migrationspädagogik mit der rassismus-
kritischen Perspektive verbindet.
Eine besondere Rolle spielt die Sprache:
Nur wenn Schulen Mehrsprachigkeit tatsäch-
lich und praktisch anerkennen – insbesondere
beiNichtmehrheitssprachen–, können siedem
monolingualenHabitus von Schule entgegen-
wirken. Mehrsprachige Schilder, herkunfts-
sprachlicher Unterricht, aber auch herkunfts-
sprachliche Elemente im Regelunterricht und
ein generell sprachsensibles Vorgehen (zum
Beispiel in Elternbriefen) können verhindern,
dass sich die unterschiedliche Wertstellung
von Sprachen verfestigt und dadurch gesell-
schaftlicheUngleichheit reproduziert wird.
Veränderungen für eine
differenzfreundlicheSchule
Eine migrationspädagogisch orientierte
Schule ist differenzfreundlich und richtet sich
analle. IhrePhilosophie legt besonderenWert
auf einen reflexivenUmgangmit Kultur, Diffe-
renz und Mehrsprachigkeit. Dies zeigt sich in
einer diversitätsorientierten Schulwirklichkeit.
Nationalkulturelle Selbstverständnisse und
monokulturelle Normalitätsvorstellungenwer-
den dabei problematisiert.
Eine offene und anerkennende, Partizipa-
tion herstellende Kommunikation mit allen
Eltern, verbunden mit einem Schulklima,
das auf Respekt, Vertrauen, Transparenz und
Mitbestimmung setzt, kennzeichnen den
Schulalltag. Inkludierende Maßnahmen wie
Binnendifferenzierung ersetzen segregierende
Maßnahmen wie äußere Differenzierung oder
Auffangklassen. Außerunterrichtliche Aktivi-
täten, vielfältige Lernorte und Kooperationen
mit außerschulischen (MigrantInnen-)Instituti-
onen können das Schulleben bereichern. Bei
Schulgesetze inderMigrationsgesellschaft
JuristischerNachholbedarf
Die landesspezifischen Schulgesetze müssten
als formaljuristische Grundlage schulischen
Handelns und als Steuerungsinstrument migra-
tionspädagogische Überlegungen berücksichti-
gen. Zeitgemäße Grundlagen für Bildung in der
modernenMigrationsgesellschaft sehen jedoch
anders aus.
So heißt es im Schulgesetz NRW in §2 (6) „Die
Schülerinnen und Schüler sollen insbesondere
lernen (…) Menschen unterschiedlicher Herkunft
vorurteilsfrei zu begegnen, die Werte der unter-
schiedlichen Kulturen kennenzulernen und zu
reflektieren sowie für ein friedliches und diskri-
minierungsfreies Zusammenleben einzustehen“.
Begriffe wie „vorurteilsfrei“, „kennenlernen“, „re-
flektieren“ und „diskriminierungsfrei“ lassen eine
reflexive Interkulturaltität erkennen. Wenn jedoch
von den „Werten unterschiedlicher Kulturen“ die
Rede ist, verbirgt sich dahinter nach wie vor ein
statisches Kulturverständnis.
Liebe zuVolkundHeimat
Problematischer wird es noch in §2 (2) der nord-
rhein-westfälischen Landesverfassung, wonachdie
SchülerInnen in „Liebe zu Volk und Heimat“ zu
erziehen sind. Dochwie sind „Volk“ und „Heimat“
in einer Migrationsgesellschaft definiert? Die For-
mulierung folgt einer Nationalstaatsvorstellung,
die durch kulturelle Vereinheitlichung nationale
Homogenität intendiert. Noch expliziter und pro-
blematischer drückt das bayerische Schulgesetz
diese Zielsetzung in§1 (1) aus: „Die Schülerinnen
und Schüler sind (…) in der Liebe zur bayerischen
Heimat und zum deutschenVolk (…) zu erziehen.“
Ehrfurcht vorGott
Auch in Sachen Religion geht die Landesver-
fassung an den Ansprüchen einer modernen
Migrationspädagogik vorbei. Sie enthält nicht
nur Widersprüche zur Religionsfreiheit, sondern
erhebt zudem „Ehrfurcht vor Gott“ zum obersten
erzieherischen Ziel. Eine demWortlaut nach mo-
notheistische, wenn nicht gar monokulturelle
Normsetzung widerspricht einem offenen, diskri-
minierungsfreien Umgang mit Vielfalt in der Mi-
grationsgesellschaft. Diversitätssensibilität und
Rassismuskritik sind hier offenbar noch nicht an-
gekommen.
RenéBreiwe
WissenschaftlicherMitarbeiter
am Institut für Pädagogik der
Universität Duisburg-Essen
vermeintlich kulturell bedingten, diskriminie-
renden oder rassistischen Konfliktfällen erfol-
gen lösungsorientierte Thematisierungen und
Beratungen.
Damit diese Schule möglich wird, sind
Veränderungennicht alleinauf schulorganisa-
torischer Ebenegefragt: Schon inder LehrerIn-
nenbildung müssen migrationspädagogische
Aspekte ihren festenPlatzhaben.Hinzu treten
die didaktische und curriculare Ebene, auf der
mögliche Kulturalisierungen und Rassismen
in Büchern, Bildern oder Texten aufzudecken
undantidemokratischeVermittlungspraxen zu
vermeiden sind.
René Breiwe
IntegrationsagenturenNRW:
Servicestellen für Antidiskriminie-
rungsarbeit inNRW
Netzwerk rassismuskritischeMigra-
tionspädagogikBaden-Württem-
berg: Infos und Literaturtipps
PaulMecheril:Was istMigrations-
pädagogik? (in: GEWBremen, BLZ
August/September 2013)