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Deutschland ist geprägt von migrationsbedingter kultureller Vielfalt. Migrati-
onsbewegungen kennzeichnendas gesellschaftliche Lebenund führen zuwech-
selseitigen kulturellen Einflüssen – auch in der Schule. SchülerInnen tragen als
junge Menschen mit und ohne familiäre Migrationshintergründe oder eigene
Migrationserfahrungen vielfältige kulturelle Kontexte in den schulischen All-
tag.Wie kann einemoderneMigrationspädagogik demgerechtwerden?
Kulturalisierungsfalle
undKulturverständnis
Wer SchülerInnen einer (vermeintlich na-
tionalen) Kultur zuordnet, läuft Gefahr, ihr
gesamtes Handeln und Denken vor diesem
kulturellen Hintergrund zu erklären und so-
mit einseitige kulturelle Zuschreibungen vor-
zunehmen. Kultur als Erklärungsfaktor wird
dabei oftmals überhöht und dramatisiert,
die „fremde“ Kultur abgewertet. Strukturelle
und systemische Benachteiligungen als Erklä-
rungsfaktor hingegenwerdenaußen vor gelas-
sen.Macht beispielsweiseeineSchülerin keine
Hausaufgaben, wäre eine kulturalisierende
Deutung die Annahme, dass innerhalb ihrer
FamilieBildung fürMädchen kulturell bedingt
als unbedeutsam erachtet wird.
Entscheidend für die Markierung von Viel-
falt ist in erster Linie die persönliche Einstel-
lung und Haltung der Lehrperson. So werden
Kinder „mit Migrationshintergrund“ hinsicht-
lich ihres Lebenslaufs, ihrer Identität und
ihres Verhaltens vielfach als normabweichend
wahrgenommen. Das eigentliche Problem ist
jedoch das Bildungssystem, nicht das „Mi-
grantenkind“. KulturelleDifferenz stellt keinen
grundsätzlich existentenUnterschied, sondern
eine von Menschen konstruierte, oft defizitär
orientierteUnterscheidungspraxis dar.
Der Kulturalisierungsfalle liegt das Ver-
ständnis zugrunde, Kulturen seien statische,
in sich geschlossene Konzeptionen. An diese
Idee knüpft auch die klassische, interkultu-
relle Pädagogik an, die sich zum Ziel setzt,
ein Miteinander und gegenseitige Toleranz
dieser geschlossenen Kulturen zu fördern. Im
Gegensatz zur früheren Ausländerpädagogik
werden andere Kulturen dabei anerkannt und
die Begegnung mit Menschen anderer kultu-
reller Hintergründe erfolgt nicht mehr defizit-
orientiert. Dennoch herrscht die Vorstellung
von in sichgeschlossenen, statischenKulturen
vor – aus heutiger Sicht eine unzureichende
Grundlage für die pädagogische Praxis.
Vorsicht, Falle:
interkulturelles Essen
Längst haben Schulen erkannt, wie wich-
tig die gelebte Anerkennung „anderer“ Kul-
turen ist – ein Bewusstsein, das sich häufig
inProjektenwie einem sogenannten interkul-
turellen Essen niederschlägt. Als Zeichen der
interkulturellen Toleranz – in der Regel aus
Perspektive der Mehrheitsgesellschaft – sind
die SchülerInnen aufgefordert, das für ihre
Kultur „typische“ Essen mitzubringen. Doch
gut gemeint ist nicht immer gut gemacht.
Kulturelle Zuschreibungen erfolgen auch
hier, sobald bestimmten SchülerInnen eine
Kultur zugewiesen wird, für die sie vermeint-
liche ExpertInnen sind (Verobjektivierung).
Es erfolgt eine (kulturelle) Exotisierung und
ZumWeiterlesen
Paul Mecheril, Maria doMar CastroVarela,
Inci Dirim, AnnitaKalpaka, ClausMelter
Migrationspädagogik
Beltz, 2010
192 Seiten
ISBN:978-3-407-34205-8
19,95 Euro
KulturelleVielfalt inder Schule
Raus aus der Kulturalisierungsfalle!
Foto: weerapat1003/fotolia.com
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