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punktlandung: Hannelie, du bist Realschulexpertin für
dieses Fach und Mitglied für den DGB im Beirat beim
Schulministerium, der den Modellversuch kritisch be-
gleitet. Welche Einschätzung hast du nach fast zwei
Jahren für die dauerhafte Realisierung des Fachs Öko-
nomie an Realschulen?
Khodaverdi-Weinand:
Die intensive Arbeit und das En-
gagement der KollegInnen, die am Modellversuch betei-
ligt sind, schätze ich. Es ist anzuerkennen, dass eine Men-
ge Arbeit darin steckt. Das Projekt insgesamt ist jedoch
sehr problematisch und ich halte deshalb eine dauerhaf-
te Installierung der neuen Fächer für nicht sinnvoll. Mit
Besorgnis beobachte ich nämlich, dass schon jetzt das
Fach Sozialwissenschaften an Realschulen durch Ökono-
mie verdrängt und abgeschafft wird. Das schwächt die
Erziehung unserer SchülerInnen zu mündigen, demokra-
tischen Staatsbürgern erheblich. Wertvolle Initiativen, die
unsere Schulkultur bereichern, gehen verloren.
Welche Auswirkungen hätte die Einführung der Fächer
Ökonomie/Wirtschaft für KollegInnen und Schule?
D
er neue Kernlehrplan (KLP) Politik ist seit Beginn die-
ses Schuljahres an den Realschulen implementiert. Der
neue KLP Sozialwissenschaften ist für 2013 vorgesehen.
Die Rahmenvorgaben Ökonomische Bildung sind weiter
in Kraft. Mit Einführung von Ökonomie und Wirtschaft
kämen die KLPs für diese Fächer noch dazu. Die schul-
internen Lehrpläne müssten erneut komplett umgeschrie-
ben werden, auch in Erdkunde und Geschichte. Das ist
nicht mehr kommunizierbar. Viele Kollegien sind sowieso
extrem belastet, die Stimmung ist gereizt.
Wie sieht es mit der Positionierung der wirtschaftli-
chen und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer zu
anderen Schulformen aus?
I
n Zeiten des erdrutschartigen Umbruchs der Schulland-
schaft Realschule müssen wir besonders darauf achten,
dass der Fächerkanon und die Lehrpläne mit anderen
Schulformen kompatibel sind. Bisher sind sie auf Über-
gänge abgestimmt und ausgerichtet. Es ist bis jetzt unge-
klärt, wie sich die Einführung der Fächer Ökonomie und
Wirtschaft zu den Stundentafeln und Stundenanteilen an
anderen Schulformen verhält.
Der Modellversuch „Wirtschaft an Realschulen“ startete zum Schuljahr 2010/11 und wird
über drei Jahre innerhalb der geltenden Stundentafel erprobt. An 46 Schulen wird Wirtschaft
als Kernfach unterrichtet. 24 Schulen bieten ab Klasse 7 Ökonomie als neues Wahlpflicht-
fach anstelle von Sozialwissenschaften an. Wie ist der Zwischenstand nach zwei
Jahren? Renate Boese hat für uns mit Hannelie Khodaverdi-Weinand gesprochen.
Versuch macht klug
punktlandung 2012.1
Die GEW hat diesen Modellversuch damals vehe-
ment abgelehnt, wie ist deine Einschätzung dazu heute?
F
ür mich hat sich die Anzahl der Ablehnungsgründe ver-
größert. Ich will einige nennen: Der Modellversuch ist zu
monothematisch angelegt. Es darf kein Schulfach Wirt-
schaft als „Fach der Wirtschaft“ geben. Ökonomische und
wirtschaftliche Themen müssen als Querschnittsaufgabe
aller gesellschaftswissenschaftlichen Fächer verstanden
werden. Das wird im Modellversuch nicht gewährleis-
tet. Durch ein weiteres Fach erhöht sich die Komplexi-
tät der Vernetzung. Es bleibt ein Geheimnis, bei welchen
Fächern für das zusätzliche Fach Wirtschaft Stunden-
anteile gekürzt werden sollen, Politik droht zu einem
Restfach zu mutieren. Zudem wird hier die staatliche
Fortbildung seit über 15 Jahren sträflich vernachlässigt.
Diese Aufgabe darf man nicht ausschließlich privaten
Trägern überlassen.
Siehst du also gar keine positiven Aspekte in diesem
Modellversuch?
D
och, er legt den Finger in offene Wunden. Ein aktiver
Kommunikationsprozess über gesellschaftswissenschaft-
liche Bildung an Realschulen hat eingesetzt. Es zeigt sich
stellenweise im Politikunterricht, vor allem in den Klassen
9 und 10, dass die Entwicklung von Kompetenzen, die
das Verstehen komplexer wirtschaftlicher Sachverhalte
ermöglichen und anregen ökonomische Prozesse aktiv
mitzugestalten, zu kurz kommt. Wir brauchen eine Ge-
samtkonzeption für den sozialwissenschaftlichen Fächer-
bereich an Realschulen, die die ökonomische Bildung
stärkt, aber ihren schulfachlichen Kern nicht in Einzelteile
zerlegt und damit zerstört. Mit der Schaffung neuer Fä-
cher in diesem Lernbereich entstehen mehr neue Proble-
me als alte gelöst werden.
Hannelie, danke für deine kompetente Stellungnahme.
Hannelie Khodaverdi-Weinand
Lehrerin an der Johannes-Gutenberg-Realschule
in Münster ( Sozialwissenschaften und katholische
Religion ), bis Februar 2012 GEW-Listenführerin
im Hauptpersonalrat Realschulen.
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