Ökonomische Bildung
im Schatten der Krise
Angesichts der größten Wirtschafts- und Finanzmarktkrise aller Zeiten klingen Plädoyers
für mehr Ökonomie in den Schulen kühn, wenn nicht gar abwegig. Warum hat ökonomische
Bildung auch in Krisenzeiten – oder: gerade jetzt – ihre Berechtigung?
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W
aren es nicht gerade die mit höchsten akademischen Wei-
hen ausgezeichneten Absolventen wirtschaftswissenschaft-
licher Studiengänge, die den Kollaps des Weltfinanzsystems
als Analysten, Banker und Unternehmensberater auslösten?
Liefen nicht erfahrene Fondsmanager noch wie die Lemmin-
ge in dieselbe Richtung, als die Achterbahnfahrt an der Bör-
se ihren Scheitelpunkt längst erreicht hatte? Obwohl beide
Fragen mit „Ja“ beantwortet werden können, diskreditieren
sie doch nicht die Forderung nach ökonomischer Bildung –
jedenfalls dann nicht, wenn es sich um eine emanzipierte
ökonomische Bildung handelt, die sich durch Skepsis aus-
zeichnet – auch und gerade gegenüber den Wirtschaftswis-
senschaften als Leitwissenschaft.
D
enn hätten wir als Anleger gewusst, wie stark die
Schwankungen von Aktien und Anleihen, von Derivaten
und Devisen, von Fonds und Futures sein können, wäre
unser Misstrauen gegenüber den Bankberatern größer
und der Flurschaden an den Kapitalmärkten mangels
Spekulationsmasse kleiner gewesen. Wären wir der von
Versicherungskonzernen geschürten Vollkaskomentalität
nicht erlegen, hätten wir den Kapitalmarkt nicht durch
den Abschluss privater Renten- und komplexer Lebensver-
sicherungen mit Milliardenbeträgen geflutet. Und wenn
wir unsere Zweifel an der Allmacht des Marktes lautstark
artikuliert hätten, wäre die Entgrenzung der Märkte wo-
möglich unterblieben.
D
eshalb müssen der Wirtschaftslehre, wonach Arbeits-,
Güter- und Heiratsmarkt modelltheoretisch nach densel-
ben Mechanismen funktionieren, im Unterricht alternative
ökonomische sowie politische, gesellschaftliche und kultu-
relle Denkansätze zur Seite gestellt werden. Denn solange
alle fünf Sekunden ein Kind an Hunger oder an dessen
unmittelbaren Folgen stirbt, muss sich nicht nur unser so-
ziales Gewissen, sondern auch unser ökonomischer Sach-
verstand regen.
B
ildungspolitisch kontrovers diskutiert wird derzeit die
Frage, ob – wie im auf drei Jahre angelegten nordrhein-
westfälischen Modellversuch
Wirtschaft an Realschulen
geschehen – ein eigenständiges Unterrichtsfach Wirt-
schaft eingeführt oder ob das Themenfeld Wirtschaft in-
nerhalb der sozialwissenschaftlichen Bildung gestärkt wer-
den soll. Einen Bärendienst erweisen der ökonomischen
Bildung Initiativen wie die von den Unternehmen Alli-
anz, McKinsey und Grey gegründete Stiftung
My Finance
Coach
. Nicht nur, dass deren Unterrichtsmaterialien ein
didaktisches Desaster darstellen. Sie entsenden zudem un-
punktlandung 2012.1
ternehmenseigene MitarbeiterInnen als
Finance Coaches
in den Unterricht, um SchülerInnen finanzielle Allgemein-
bildung zu vermitteln. Derartige Indoktrinationsinitiativen
gefährden die Unterstützung für ökonomische Bildung aus
Kreisen der Kirchen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsver-
bände – sowie aus weiten Teilen der Bevölkerung.
U
nabhängig davon, ob die didaktische Debatte in Rich-
tung Integration oder Separation ökonomischer Bildung
verläuft, müssen Wege aufgezeigt werden, wie SchülerIn-
nen durch wechselseitige Bezüge zwischen den Disziplinen
Politik, Ökonomie, Geschichte, Recht und Soziologie Wirt-
schaft besser verstehen lernen. Letztlich gilt es den von
John M. Keynes formulierten Anspruch einzulösen, wonach
ein guter Ökonom bis zu einem gewissen Grad auch Ma-
thematiker, Historiker und Philosoph sein muss. Schließlich
ist derjenige, der dem ökonomischen Rationalismus in je-
der Lebenssituation erliegt, weniger ökonomisch gebildet
als vielmehr ökonomistisch verbildet.
Prof. Dr. Tim Engartner
Institut für Politikwissenschaft (Arbeitsbereich: Didaktik
der Sozialwissenschaften, Schwerpunkt: schulische
Politische Bildung) an der Uni Frankfurt am Main
Tim Engartner (2010):
„Didaktik des Ökonomie- und Politikunterrichts“
Stuttgart: UTB/Schöningh
ISBN: 978-3-8252-3318-1
pluspunkt
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