Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Nordrhein-Westfalen,
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4-2012
Abschiedsschmerz
Mein Partner hat das offizielle Rentenalter erreicht und arbei-
tet noch bis zu den Sommerferien. Sein Gefühlsleben schwankt
in diesem Schuljahr zwischen offenem Triumph („Nie mehr so
blöde Eltern!“) bis hin zu schmerzlicher Wehmut („Eigentlich ha-
be ich immer gern unterrichtet!“). Daheim feilt er an seiner letz-
ten Abiturrede und an den deutlichen Worten, die er dem kon-
fliktscheuen Schulrat zum Abschied an den Kopf werfen will.
Über seinem Schreibtisch hängen gerahmte Kopien: „Mein letzter
Stundenplan“, „Meine letzte Geschichtsklausur“, „Mein letztes
Protokoll“.
Jeden Montag geht er mit aussortierten Büchern in die An-
stalt. „Fundgrube für Vertretungsstunden“, „Cybermobbing im
Kollegium“ und „Verhaltensoriginelle Jugendliche“ werden ihm
aus der Hand gerissen. Der Sammeltrieb ist auch in den nach-
wachsenden Lehrergenerationen ungebrochen.
Ich will in der Schulrechtssammlung nachsehen, ob Gartenar-
beit eine entwürdigende Sanktion für renitente Jugendliche ist.
Mein Partner ist ein wenig verlegen. Das dicke Schulgesetzbuch
hat er längst seiner Nachfolgerin vermacht. Mit den Wochen ver-
schwinden die Deutsch- und Geschichtsordner Klasse 7 bis 13
aus der Schrankwand. Wir überlegen, einen Container für den
Papiermüll anzufordern. Vielleicht müssen wir doch keinen Win-
tergarten anbauen, wenn bis zu den Sommerferien die Hälfte
des Inventars verschwunden ist. Dinge mit hohem Erinnerungs-
wert bleiben allerdings in unserem Haushalt: z.B. die Lateinlern-
kartei aus dem Studium, die handschriftlichen Unterlagen über
Minnesang, Macchiavelli und römisches Recht.
An seinem letzten Studientag im Kollegium lehnt sich mein Part-
ner zurück und lauscht schmunzelnd den neuesten Reformideen. Sei-
ner Altersweisheit ist es vermutlich zu verdanken, dass er nicht offen
verkündet, all diese kühnen Ideen seien schon vor 30 Jahren mal
„erfunden“ worden. Er freut sich, dass er nicht mehr an zeitintensi-
ven Maßnahmen teilnehmen muss, deren Effektivität er schon da-
mals zu Recht bezweifelt hat. Tendenziöse Zeitungsberichte über al-
te Lehrer und das Versagen der Schule nimmt er abgeklärt zur
Kenntnis: „Wie schön, das kann mich alles nicht mehr aufregen.“
Am letzten Wandertag lädt er seine 10. Klasse in den Heidepark
Soltau ein. Für die letzte Gesamtkonferenz spendiert er drei Spanfer-
kel und ein Fass Bitburger. Ferne Verwandte in Westfalen fordern ei-
ne große Festivität zur Pensionierung. Dieses letzte Dienstjahr geht
ins Geld.
Mein Partner überlegt, womit er seine besten Jahre verbringen
kann. Einen Bildungsroman schreiben? Aphorismen dichten? Den
Rasen neu anlegen? Argentinischen Tango lernen? Ein Ehrenamt
ausfüllen? Ich erwische ihn, als er eine Anzeige aus der Zeitung rupft:
„Senior Partners for school gesucht“. Das sind Silver-Ager, die Streit zwi-
schen Schülern schlichten. „Das machst du nicht!“, erkläre ich.
Es gibt ja wirklich Menschen, die nicht vom Schuldienst lassen
können, die inständig darum bitten, auch weiterhin als Stundenkraft
beschäftigt zu werden – und sei es in der Lehrbücherei. Und genug
Schulen sind auf diese Pensionäre dringend angewiesen. Die Grund-
schule gegenüber sucht Lesepaten und Kräfte für die Essensausga-
be. Mein Partner sieht sehnsüchtig zu den kreischenden Kindern auf
dem Spielplatz hinüber. Er kann doch so gut vorlesen.
Ich überzeuge ihn, dass es viel dringender ist, unseren Keller
trockenzulegen, damit er sich dort sein kleines Reich schaffen kann.
In Loriots „Papa ante portas“ werden viele pensionierte Männer art-
gerecht im Hobbykeller gehalten. Nach den Sommerferien und dem
Kellerumbau verschwindet mein Partner täglich für mehrere Stunden
im Untergeschoss. Er hat sich sogar einen eigenen Zugang gegraben.
Was er da unten macht? Er gibt Nachhilfeunterricht für verhaltens-
originelle Jugendliche.
Gabriele Frydrych
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