Regelmäßig arbeite ich mit PolizistInnen, mit
angehenden LehrerInnen und werdenden Thea-
terpädagogInnen, mit Auszubildenden und
Chefetagen, mit PfarrerInnen und arbeitslosen
Menschen. Bei ihnen allen setzen die Mittel des
Theaters so viel in Gang: gruppendynamische
Prozesse, freies und selbstsicheres Auftreten,
Kommunikationsfähigkeit, Sprachförderung,
Improvisationsfähigkeit, Motivation, Lernen,
Verstehen, Internalisieren, mentales Training,
Konzentration und Aufnahmefähigkeit.
Arbeit am Ich
Eine der wunderbarsten Erfahrungen, die ich
mit den Mitteln des Theaters gemacht habe,
war ein Projekt, das ich in den letzten Jahren
drei Mal durchführen konnte: Junge Erwachsene
zwischen 17 und 30 Jahren haben jeweils elf
Monate lang an sich und ihrer Situation gear-
beitet. Sie haben die türkische Sprache erlernt,
fünf Monate lang in der Türkei gelebt und dort
Praktika absolviert. Sie haben ein bilinguales
Theaterstück geschrieben, erprobt und zuerst
in der Türkei und danach in Deutschland zur
Aufführung gebracht.
Wir sprechen von Premieren in großen Thea-
tern mit 500 Zuschauern und großem Medienin-
teresse. Wir sprechen von Standing Ovations für
intelligente, charmante und kluge Unterhaltung,
für Kulturaustausch und gelebte Integration.
Wohlgemerkt: Die jungen Leute haben sich
nicht freiwillig für ein solches Projekt gemeldet.
Sie waren Schulverweigerer, besaßen keine
oder schlechte Schulabschlüsse und waren
relativ perspektivlos. Abgestempelt als „vorpro-
grammierte Hartz-IV-Empfänger“.
Theater? Ohne mich!
Sie können sich vorstellen, dass bei den Teil-
nehmerInnen keine offenen Türen eingerannt
wurden. Im Gegenteil: Die Abwehrhaltung war
riesig, das Gefühl der Überforderung angesichts
der fremden Sprache und Umgebung stark. Und
Theater kam gar nicht erst infrage.
Vor allem den letzten Gedanken kenne ich
von allen Zielgruppen sehr gut. Ebenso die
Scham, die plötzlich einen Raum ausfüllt und
Menschen zu verschreckten Kaninchen werden
lässt, wenn Theaterspielen angesagt ist. Auch
das Unverständnis, warum ausgerechnet Mit-
tel aus dem Theater zum Beispiel das Lernen
erleichtern sollen. Gerade in Schulklassen emp-
finde ich diese ablehnende Haltung als normal
– zumal in einem bestimmten Alter Coolness
und Unsicherheit Hand in Hand gehen.
Wenn der Knoten platzt
Doch ich erlebe es immer wieder: Plötzlich
sind Gruppen mitten im theatralen und päda-
gogischen Prozess – und keiner hat’s bemerkt.
Plötzlich sind ringsherum lachende Gesichter,
blitzende Augen und gerötete Wangen. Plötzlich
beobachten sich die Spielenden selbst beim
Spaßhaben – und verbieten sich dies vor lauter
Schreck im selben Moment.
Ebenso wie die anfängliche Scheu kenne ich
von jeder Zielgruppe folgende abschließende
Aussage: „Schade, dass ich nicht viel früher mit
Sie haben jeden Tag genug Theater?
Und schon wieder will Ihnen jemand
erklären, wie der Schulalltag besser zu
bewältigen sei? Mit noch mehr Thea-
ter? Keine Sorge: Hier geht es nicht
um ein weiteres Aufgabenpäckchen,
sondern um Spaß und Begeisterung.
Seit 15 Jahren bin ich freiberufliche
Theaterpädagogin und kann jeden nur
beglückwünschen, der das Theaterspiel
in die Schule bringt. Bitte geben Sie ei-
ner Überzeugungstäterin eine Chance!
Plädoyer für Theater in der Schule
Theater tut gut
Theater in Kontakt gekommen bin. Das hätte
mir in meinem Leben und Lernen vieles erleich-
tert. Ich bin viel selbstbewusster, denke nicht
mehr darüber nach, was andere über mich den-
ken, sondern ziehe viel mehr mein Ding durch.“
Was aus den TeilnehmerInnen des deutsch-
türkischen Projektes wurde? Sie alle haben nach
elf Monaten Arbeitsplätze gefunden oder sich
anderweitig zielführend auf ihren Weg begeben.
Theater für alle!
Wäre ich Bundeskanzlerin, würde ich Theater
für alle empfehlen. Insofern kann ich wage-
mutige und interessierte Lehrkräfte, egal an
welchen Bildungstempeln sie tätig sind, nur er-
mutigen: Wagen Sie sich an das Theater heran!
Es macht nicht nur anderen Spaß, sondern ist
für Sie selbst ein Quell der Erheiterung und des
Frohsinns. Und das nicht nur in einer Theater-
AG, sondern auch im Matheunterricht oder beim
Sprachenlernen. Theater ist kein Allheilmittel,
aber ein Handwerkszeug.
Wie Shakespeare schon wusste: Die ganze
Welt ist eine Bühne. Und was gibt es Schöneres,
als mit Menschen zu tun zu haben, die Regis-
seure ihres eigenen Lebens sind oder werden?
Sabine Stein
Sabine Stein
Theaterpädagogin, Bundesver-
band Theaterpädagogik e.V.
Diese Theatergruppe vom Essener Kulturzentrum Grend weiß: Theaterspielen setzt verborgene Kräfte frei, manchmal
auch völlig verrückte. Foto: B. Butzke