nds_201408 - page 22

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Thema
analphabetismus inDeutschland
Armutszeugnis oder
Herausforderung?
Spätestens seit PISa ist bekannt, dass die Schulpflicht allein
nicht den Schulerfolg garantiert: Die Studie zeigte, dass knapp
zehn Prozent der 15-Jährigen am ende ihrer Schulzeit nur sehr
begrenzte Lesekompetenzen erworben hatten. Die Bundeslän-
der übertrafen sich nach dem legendären PISa-Schock mit
Konzepten zur individuellen Förderung und präventivenmaß-
nahmen in Kitas und Kindergärten. Die 15-Jährigen aus dem
Jahr 2000 sind mittlerweile fast doppelt so alt. haben die
Leseschwachen von damals inzwischen ein besseres Lesever-
ständnis erworben?
Aussagen dazu wird irgendwann das Nati-
onale Bildungspanel treffen können, das Bil-
dungsverläufe und Kompetenzentwicklungen
im Lebensverlauf untersucht. Die leo. – Level-
One Studie der Universität Hamburg lieferte
2011 erste empirisch erhobene Erkenntnisse
zu den schriftsprachlichen Kompetenzen
Erwachsener und ermittelte 14,5 Prozent
funktionale AnalphabetInnen. 7,5 Millionen
Menschen im erwerbsfähigen Alter können
allenfalls auf Satzebene lesen und – orthogra-
fisch sehr eingeschränkt – schreiben. Vermut-
lich leben inDeutschland sogarmehr als zehn
Millionen funktionaleAnalphabetInnen, denn
leo. hatweder Erwachseneohneausreichende
mündliche Sprachkompetenzen imDeutschen
berücksichtigt noch dieAltersgruppe der über
64-Jährigen einbezogen. Ein Schock blieb
nach leo. ebenso aus wie nach Veröffentli-
chung der Ergebnisse von PIACC, landläufig
als PISA-Test für Erwachsene bezeichnet, der
ähnliche Ergebnisse präsentierte.
Fotos: fotolia.com/
DreamingAndy
Analphabetismus –
Kollateralschaden
derWissensgesellschaft
Offenbar hat sich die deutsche Öffentlich-
keit inzwischen an den Gedanken gewöhnt,
dass es – übrigens schon immer – im Land
der Dichter und Denker auch Bildungsarme
und Bildungsbenachteiligte gibt. Zu Zeiten
Goethes und Schillers war der Bildungsstand
eines Großteils der Bevölkerung deutlich nied-
riger als heutzutage. Inden letzten200 Jahren
konnten immer größere Teile der Bevölkerung
an Bildungsprozessen teilnehmen. Aber seit-
dem hat sich die Gesellschaft grundlegend
geändert. In unserer von Schrift geprägten
Welt wird es zunehmend schwieriger, ohne
ausreichende Lese- und Schreibkompetenzen
zurechtzukommen. Es werden immer höhere
Bildungsabschlüsse verlangt und wer über zu
geringe Grundbildung verfügt, wird schnell an
den Rand gedrängt. Funktionaler Analphabe-
tismus ist – sogesehen –derKollateralschaden
unsererWissensgesellschaft. DieAufforderung
zum lebenslangen Lernen führt vor allem bei
Bildungsarmen zur Überforderung, nicht sel-
ten zur Ausgrenzung undResignation.
Ob PISA, leo. oder PIACC – alle Studien
machenauf einenbesonderenMissstandauf-
merksam, der im internationalen Vergleich
für Deutschland besonders gravierend aus-
fällt: Bildungschancen und Bildungsbenach-
teiligungen sind signifikant abhängig vom
Bildungsstand der Herkunftsfamilie. Verein-
facht gesagt: Kinder von Akademikereltern
werden überproportional häufig studieren.
Habendie ElternniedrigeBildungsabschlüsse,
wirkt sich das negativ auf die Bildungsver-
läufe ihrer Kinder aus.
Bildungsabschlüsse korrelieren mit
Einkommen und sozialem Status. Wer gut si-
tuiert ist, ist häufiggebildet – undumgekehrt.
Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt
sind selbstverständlich, Hilfe bei den Hausar-
beiten üblich, und notfalls können Kosten für
Logopädie, Ergotherapie oder kommerzielle
Nachhilfe von den Eltern getragen werden.
Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern ha-
ben schlechtereAusgangschancen: Ihnenwird
weitweniger vorgelesen, siebesuchen seltener
den Kindergarten und erzielen geringere Bil-
dungserfolge. Ihre Eltern wissen häufig nicht
über Hilfsangebote Bescheid oder können
sie sich nicht leisten. Angebote zur Family
Literacy, bei denen Kinder und deren Eltern
gleichermaßen unterstützt werden, könnten
hier ansetzen. Ganztagsschulen können –mit
entsprechenden Konzepten – SchülerInnen
Orientierung geben, soziales Lernen ermög-
lichen und Bildungsangebote bereitstellen,
dieanden Interessender Kinder und Jugend-
lichen anknüpfen.
NotfallsdieBrille vergessen –
Lebenohne LesenundSchreiben
Wer die Schule mit Schwierigkeiten im Le-
sen und Schreiben verlässt, richtet sich ein,
meidet Situationen, in denen gelesen oder
geschrieben werden muss, bittet eine Ver-
trauensperson darum, die unvermeidlichen
Formulare auszufüllen oder hat notfalls „die
Brille vergessen“. Diese Kompensations- und
Bewältigungsstrategien funktionieren er-
staunlichgut und es besteht für viele Erwach-
sene keine Notwendigkeit, einen Lese- und
Analphabetismus –
was ist das?
Primärer analphabetismus:
Erwachsene kön-
nen nicht lesen und schreiben, weil sie als Kind
oder Jugendliche keine Schule besucht haben.
Funktionaler analphabetismus:
Geringe Lese-
undSchreibkompetenzen sindvorhanden.Diese
sind jedoch nicht ausreichend, um die gesell-
schaftlich bestimmten Mindestanforderungen
zu erfüllen.
Sekundärer analphabetismus:
Zunächst aus-
reichende Lese- und Schreibkompetenzen sind
teilweise wieder verloren gegangen, so dass
funktionaler Analphabetismus besteht.
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