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nds 8-2014
Alphabetisierung ermöglicht Teilhabe
Wenn Sprache zur Barrierewird
Als I
Ş
il Dalman vor 26 Jahren in den Wehen lag, hätte sie sich gewünscht
mit den Krankenschwestern und den Ärzten kommunizieren zu können. Doch
sie konnte nicht Deutsch sprechen. Sie schämte sich, denn niemand hätte sie
verstanden. Also schrieb sie auf Zettel, wo sie Schmerzenhat, was sie braucht.
I
Ş
il Dalman konnte Deutsch verstehen und
es auch schreiben – aber nicht sprechen. Das
hatte ihr niemand beigebracht. Sie sprach
die deutschenWörter so aus, als seien es tür-
kische. Unverständlich.
Analphabetismushat viele Formen
Als sie mit 18 Jahren der Liebe wegen aus
der Türkei nach Deutschland kam, bestand
– so dachte die Familie damals – wenig Be-
darf die Sprache zu lernen. Doch I
Ş
il Dalman
wollte Deutsch lernen. In der Türkei war sie
Grundschullehrerin. Sich inDeutschland noch
nicht einmal verständigen zu können – für sie
undenkbar. „Ohne die deutsche Sprache zu
beherrschen, kann man nicht in Deutschland
leben“, sagt sie. Also besorgte sie sich ein
Lernbuch und eine Grammatik. Stundenlang
übersetzte sie vom Türkischen ins Deutsche
und umgekehrt, büffelte Artikel und Präposi-
tionen. Nach einigen Jahren konnte sie gutes
Deutsch – allerdings nur lesen und schreiben.
„Ich habemich geschämt, hatte Angst, etwas
falsch auszusprechen“, sagt sie.
Mit diesem Problem gilt sie als „funktio-
nale Analphabetin“. Das bedeutet, sie kann
Deutsch sprechen – zumindest theoretisch.
Wer unter einer Form von Analphabetismus
leidet, muss nicht zwangsläufig nicht schrei-
benoder lesenkönnen. AuchMenschen, deren
Kenntnissenicht denGrad erreichen, denman
indem Land, indem sie lebenerwartet, gelten
als AnalphabetInnen.
Die wenigsten von ihnen können gar nicht
lesen oder schreiben. Christel Matthes von
der Volkshochschule (VHS) Bochum kennt
die unterschiedlichsten Probleme: „Manche
Menschen kommen zu uns, weil sie nur in
Großbuchstaben schreiben können. Manche
könnennur Sätze lesen, dieweniger als sieben
Wörter haben.“ Als Fachbereichsleiterin Kunst
und Kultur verantwortet sie auch die Alpha-
betisierungskurse, die bei der VHS Bochum
angebotenwerden.
Kaum einBeruf ohneSchreibarbeit
Handwerksmeister, Computerfachleute, Fuhr-
unternehmer – indenAlphabetisierungskursen
lernen auchBerufstätige. „DieMenschen kom-
men aus den unterschiedlichsten Gründen zu
uns“, so Christel Matthes. Da sind Mütter mit
ausländischen Wurzeln, die den Schulprozess
ihrer Kinder begleiten möchten, oder Berufs-
tätige, die im Job schreiben müssen und ihr
Niveau verbessern möchten, damit sie sich
komplexer und eleganter ausdrücken kön-
nen. In vielen Berufen werden heute andere
Kompetenzen erwartet als noch vor ein paar
Jahren. „Ganz viele Berufe, wie BusfahrerIn-
nen, Reinigungs- undPflegekräfte, sindbis vor
Kurzem ohne Schreiben ausgekommen. Doch
die Anforderungen haben sich geändert“,
weißChristel Matthes.
Wer nicht gut lesen, schreiben oder sprechen kann, fühlt sich imAlltag schnell verloren. Soging es auch I
Ş
il Dalman: Lange konnte die gebürtige TürkinnichtDeutsch sprechen.
Fotos: A. Etges
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