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Thema
Das ist auch bei Dirk Raschke der Fall. Der
40-Jährige arbeitet bei der DeutschenBahnals
Fahrdienstleiter. Er ist auf einem 50 Kilometer
langen Streckenabschnitt für alles verantwort-
lich, was darauf fährt. „Ich bin Fluglotse für
Züge“, erklärt er. Er liebt seinen Job, doch es
gibt ein Problem. „Der Chef hat sich schon
oft beschwert, dass er meine Schrift nicht le-
sen kann“, sagt Raschke. Als Fahrdienstleiter
muss er mittlerweile viel Dokumentationsarbeit
leisten. Im Zugmeldebuch muss jede Zugfahrt
aufgeführt werden. Akribisch und vor allem:
leserlich. Raschke fällt genau das schwer.
„Seit der Schulzeit habe ich Problememit dem
Schreiben.Wenn ichmichbeeile, kannniemand
lesen, was ich geschrieben habe. Nicht einmal
ich selbst. UndauchmeineRechtschreibung ist
nicht die beste“, gibt er zu. In der Schule gab
es dafür eine 5 inDeutsch – in der ehemaligen
DDR, wo Raschke ursprünglich herkommt, die
schlechteste Note. „Mich hat das weniger ge-
stört. Ich kannte es ja nicht anders“, sagt er.
Doch trotz miesen Schriftbilds kam er immer
durch. „Die Lehrer haben mich durchgebracht
und immer ein oder zwei Augen zugedrückt“,
erinnert sich Raschke undweiß selbst nicht ge-
nau wieso. Jedenfalls ist er dankbar, denn der
Abschluss eröffnete ihm die Möglichkeit, eine
Ausbildung bei der Bahn zu machen. Als Wei-
chenwärter musste er nichts schreiben – heute
als Fahrdienstleiter ist das anders.
Alphabetisierungskurse –
nicht nur für Zugewanderte
Auch bei I
Ş
il Dalman führte der Ehrgeiz
dazu, in einemAlphabetisierungskurs der VHS
Bochum die Aussprache zu lernen. Jahrelang
hatte sie als Reinigungskraft gearbeitet. „We-
gen der Sprachprobleme konnte ich nichts an-
deresmachen“, sagt sie. „Die deutschen Kolle-
gInnenhabenmich immer verbessert, wenn ich
wieder etwas falschausgesprochenhatte. Aber
meine türkischenKollegInnen habenmich aus-
gelacht.“ Eine schwere Zeit. Erst nach Jahren
besuchte sie den ersten Deutschkurs ihres Le-
bens. „Die anderen Frauen dort haben lieber
Kaffee und Tee getrunken, doch ich wollte ler-
nen“, erinnert sie sich. Im Radio hörte sie von
denAlphabetisierungskursen an der VHS. Dort
erfuhr sie, dass auch viele Deutsche Probleme
mit ihrerMuttersprache haben.
Die VHS versucht AnalphabetInnen über
niedrigschwelligeAngebote zuerreichen.Wer-
bung im Radio ist nur eine der vielen Ideen.
„Wir drucken Flyer, in denen in ganz simpler
Sprache unser Angebot beschrieben wird.
Dabei haltenwir uns an die Regeln der soge-
nannten leichten Sprache, zum Beispiel dass
ein Satz nicht mehr als siebenWörter haben
soll“, erklärt Christel Matthes.
Neben ihrem Job ging I
Ş
il Dalman viermal
in der Woche zu Deutsch- und Alphabetisie-
rungskursen. Ihr Ehrgeiz war geweckt. „Ich
will gutes Deutsch sprechen“, sagt sie. Pro-
bleme bereitet ihr zum Beispiel die Ausspra-
che des „Z“. Im türkischen wird es weich aus-
gesprochen. Die scharfe deutsche Variante
fällt ihr zwar immer noch schwer, aber sie hat
sich deutlich verbessert. Vor allem traut sie
sichmit anderenMenschen zu sprechen – ein
riesiger Fortschritt.
Natürlichmit den eigenenSchreib- und
Leseproblemenumgehen
Dazuhat auchAndreaWirtzmaßgeblichbei-
getragen. Die Lehrerin und Journalistin leitet
ehrenamtlich das „Lern-Café“ der VHS Bochum.
Das kostenloseAngebot dürfen alle nutzen, die
I
Ş
ilDalmanbrachte sich LesenundSchreiben zunächst selbst bei, beim richtigenSprechenhalfen ihr dieKurseder VHS.
ihre sprachlichen Fähigkeiten verbessernmöch-
ten. Es gibt keinen Lehrplan – das gibt Andrea
Wirtz die Flexibilität auf ganz konkrete und
spontane Fragen einzugehen.
„Viele TeilnehmerInnen haben schlechte
Erfahrungen mit dem Schulsystem gemacht“,
erzählt sie. Die lockere Stimmung im Lern-
Café ist ganz anders: Gemeinsam lesen die
TeilnehmerInnen einfache Texte, besprechen
Probleme der Grammatik, reden einfach mit-
einander. „Das Tolle ist, dass wir gemeinsam
entscheiden können, was wir machen. In der
Gruppe herrscht ein großes Vertrauen unterei-
nander und dadurch eine angenehme Lernat-
mosphäre“, sagt die Ehrenamtlerin.
Ganz natürlich mit den eigenen Sprach-,
Schreib- und Leseproblemen umgehen – das
mag auchDirk Raschke. Seit einigenMonaten
kommt er regelmäßig zum Lern-Café. „Wenn
ich zur Tür reinkomme, dann freue ich mich.
Ichweiß jetzt, dass esMenschengibt, die noch
viel größere Probleme haben als ich“, sagt er.
Nach der Scheidung von seiner Frau beschloss
er, etwas für sich zu tun, an sich zu arbeiten
und sein größtes Problem endlich anzugehen.
Nach einigen Wochen schon machten sich
ersteErfolgebemerkbar. „Ichgebemir jetzt viel
mehr Mühe beim Schreiben und bin dabei viel
ruhiger“, sagt er und zeigt stolz seine Lernun-
terlagen – in leserlicher Schrift.Woher der funk-
tionaleAnalphabetismus bei ihm kommt, weiß
Dirk Raschke nicht. Das sei immer so gewesen.
„Das ist irgendwie eine mechanische Störung.
Der Kopf will, aber die Hand folgt nicht“, er-
klärt er. Aus seinem Problem hat Dirk Raschke
nieeinGeheimnisgemacht: „Ichhabenienach
Ausreden gesucht, anders ging es halt nicht.
Dasmussten die anderen akzeptieren.“