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punktlandung 2013.1
ihm wollen. Und selbst als der Dolmetscher kommt, weiß
Haumand nicht, was er sagen soll. Was sind die richtigen
Antworten auf die vielen Fragen, die sie ihm stellen?
U
nd dann endlich kommt der kleine Zettel in Haumands
Tasche zum Einsatz. Es ist ein Zettel mit der Telefonnum-
mer seines Cousins, der schon in den neunziger Jahren
nach Deutschland gekommen ist und nun mit seiner Fami-
lie in Essen lebt. Am Telefon ist der Cousin zunächst skep-
tisch. Er stellt viele Fragen über den Irak und die Familie,
bis er endlich sicher ist, dass Haumand wirklich der ist,
für den er sich ausgibt. Seine erste Nacht in Deutschland
verbringt Haumand im Jugendheim. Dann holt sein Cou-
sin ihn ab, nimmt ihn mit zu sich nach Hause und macht
ihn von einem Tag auf den anderen zu einem Teil seiner
eigenen Familie. Ein halbes Jahr später übernimmt er die
Vormundschaft.
E
s ist nicht ungewöhnlich, dass unbegleitete minderjäh-
rigen Flüchtlinge bereits einen ersten Ansprechpartner
in Deutschland haben“, weiß Inka Jatta von Pro Asyl in
Essen. „Oft ist dieser Erstkontakt Teil des Geschäfts zwi-
schen Flüchtlingen und Fluchthelfern. Dabei ist viel Geld
im Spiel.“ Familienangehörige, die sich wie in Haumands
Fall auch bereit erklären, Wohnraum zur Verfügung zu
stellen, die Vormundschaft zu übernehmen oder bei wei-
teren Angelegenheiten zu unterstützen, gibt es hingegen
selten.
Auf dem Weg zum Überflieger
S
ein Cousin ist es auch, der ihn mitten hinein ins Leben
schiebt: Er meldet ihn bei einem Deutschkurs und in der
Schule an. Und Haumand lernt schnell, denn er will end-
lich für sich selbst sprechen können, nicht mehr auf die
Hilfe anderer angewiesen sein. „Wie Du sprichst, entschei-
det darüber, was die Leute von Dir denken“, sagt Hau-
mand heute und ein Akzent ist kaum zu hören. Nur ein
Jahr bleibt er in der Auffangklasse der Hauptschule, bis
er in eine Regelklasse wechseln kann. Für die Schule muss
er bis heute viel tun, besucht nachmittags Nachhilfekurse
für Deutsch und Mathe an der Essener Uni. „Ich muss im-
mer doppelt lernen. Nicht nur das Thema, sondern auch
die Vokabeln“, erzählt Haumand. Doch die viele Arbeit
zahlt sich aus, der Mittlere Bildungsabschluss mit Qualifi-
kation rückt in greifbare Nähe. Und danach?
S
eine Lehrerin hat längst erkannt, welches Potenzial in
dem jungen Iraker steckt. Mit ihrer Unterstützung macht
er ein Praktikum bei Audi und bekommt im Anschluss
prompt einen Ausbildungsvertrag angeboten. Doch ohne
Arbeitserlaubnis kann Haumand das Angebot nicht an-
nehmen. Seine Lehrerin stellt den Kontakt zu Pro Asyl her
und tatsächlich: Haumands Härtefallantrag hat Erfolg.
Von Stützen und Rückendeckung
E
s ist ein großes Glück, wenn die jungen Flüchtlinge je-
manden finden, der sie unterstützt. Die Amtsvormünder
können den enormen Anforderungen kaum gerecht wer-
den. „Bei rund 50 Mündeln pro Vormund bleibt kaum
Zeit für die gesetzlich vorgeschriebenen monatlichen Tref-
fen“, erklärt Inka Jatta. „Freiwillige Unterstützung durch
engagierte Helfer ist deshalb enorm wichtig, besonders
im Zusammenhang mit aufenthaltsrechtlichem Clearing,
psychologischer Betreuung und Bildungschancen.“
G
erade Lehrkräfte spielen eine sehr wichtige Rolle. Sie
pflegen täglichen Umgang mit den Jugendlichen. Sie sor-
gen dafür, dass zügig die richtige Schulform gefunden
wird. „Lehrerinnen und Lehrer tragen eine große Verant-
wortung“, erklärt Inka Jatta. „Denn von der weiteren
schulischen und beruflichen Laufbahn hängt oft auch
das Aufenthaltsrecht ab”.
A
uch der erste Kontakt zu Hilfsorganisationen wie Pro
Asyl wird häufig durch Lehrkräfte oder MitschülerInnen
hergestellt. Und immer wieder machen sich ganze Klas-
sen oder Schulen stark, um die Abschiebung eines Mit-
schülers zu verhindern.
An morgen denken
M
ittlerweile ist Haumand im zweiten Lehrjahr. Seine Ar-
beitserlaubnis läuft vorerst bis Juni 2013. Und wenn das
nicht geklappt hätte? Gelassen erzählt der junge Mann
von seinem Plan B: „Dann hätte ich das Abitur gemacht.
Ich hatte mich schon an einem Gymnasium angemeldet.“
Er ist ein Kämpfer und wirkt nicht so, als könnte ihn je
irgendetwas entmutigen. Natürlich – manchmal werde er
müde. Manchmal fühle sich alles doppelt so schwer an,
weil er es ganz allein hinkriegen muss.
H
aumand vermisst seine Familie, seine Eltern, die im Irak
langsam älter werden. Es ist ein Gefühl von Zerrissenheit,
das er beschreibt: „Ich will für meine Eltern da sein und
ihnen helfen. Aber wenn ich jetzt zurückgehe, verliere
ich alles. Meine Ausbildung, meine Abschlüsse sind im
Irak nichts wert. Ich kann dort nicht frei sein.“ Haumand
denkt nicht nur an das Hier und Jetzt. Nicht mehr. Er
plant den nächsten Tag und auch den übernächsten.
Er möchte nach seiner Ausbildung studieren und als In-
genieur arbeiten. Sein einziges Problem: Zu groß ist das
Angebot, zu vielfältig seine Interessen. Er sprüht förmlich
vor Begeisterung, während er davon erzählt, wie viel er
noch lernen möchte.
V
or kurzem hat er am Telefon mit seinem Vater zum
ersten Mal über seine Pläne gesprochen. Davon, dass
Deutschland all die Möglichkeiten für ihn bereit hält, von
denen er träumt. Und genau wie vor fünf Jahren trifft der
Vater eine Entscheidung. Haumand grinst: „Von meinem
Vater habe ich die Aufenthaltserlaubnis bekommen. Jetzt
müssen nur die deutschen Behörden mitziehen.“
Anja Heifel
punktlandung-Redaktion
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