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nds 2-2013
Rainer Devantié
Lehrer am Oberstufenkolleg
Bielefeld; 2003 – 2012 Lehrer
an der Deutschen Schule
Helsinki, davon sechs Jahre
als stellvertretender Schulleiter
Kontakt: rainer_devantie@
yahoo.de
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Deutsche Schule in Helsinki:
aktuelle Nachrichten und
Hintergrundinfos
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Zufriedenheit mit Elternhaus und Schule, Stress
mit Hausaufgaben. Entwicklungsschwerpunkte
und Erfordernisse können auf der Grundla-
ge der Untersuchung gemeinsam mit Schüle-
rInnen, Eltern und LehrerInnen diskutiert und
Veränderungen eingeleitet werden.
Zur Autonomie gehört auch, dass die Schu-
le ihr Personal selber aussuchen und einstel-
len kann. Dies ist zwar viel Arbeit, sorgt aber
auf lange Sicht für mehr Zufriedenheit.
Gemeinsam lernen – gemeinsam lehren
Bereits Anfang der 70-er Jahre ist die grund-
bildende Gemeinschaftsschule in Finnland ein-
geführt worden. Das heißt, alle Kinder gehen
gemeinsam in eine Schule bis einschließlich
zur neunten Klasse. Innerhalb der Klassen sind
die Niveaukurse ebenfalls abgeschafft worden.
Diese bewusste Entscheidung für das Lernen in
heterogenen Gruppen hat für das Lehren und
Lernen erhebliche Konsequenzen. Deshalb gibt
es ein System des Stützens und Helfens.
An der DSH unterstützt die Schülerberatungs-
gruppe, bestehend aus der Grundschulleiterin,
der finnischen Schulleiterin, der Psychologin,
den beiden Sonderpädagogen sowie der Sozi-
alarbeiterin und bei Bedarf der Gesundheitsfür-
sorgerin die LehrerInnen. Regelmäßig werden
die Klassenleitungen eingeladen, mögliche Pro-
bleme besprochen und gemeinsame Strategien
entwickelt. Auch die SchülerInnen können je-
derzeit mit den Sozialarbeitern, der Psychologin
und der Gesundheitsfürsorgerin sprechen, da sie
ganztägig an der Schule arbeiten.
Praktisch bedeutet das: Ich unterrichtete in
einer dritten Klasse Deutsch für Anfänger. Ich
hatte eine Schülerin, bei der ich unsicher war,
ob sie vielleicht Legasthenikerin sein könnte.
Also bat ich die Sonderpädagogin mit sprach-
heilpädagogischer Ausbildung um Hilfe. Sie
testete die Schülerin und stellte fest, dass
sie keine Legasthenikerin sei, aber fehlende
Kenntnisse im Schriftspracherwerb nachzuho-
len habe. Dafür entwickelte sie ein Programm
und arbeitete zwei Mal in der Woche parallel zu
meinem Deutschunterricht mit dem Kind, bis es
dieses Defizit aufgeholt hatte.
So werden Probleme innerhalb des Schul-
hauses gelöst. Die SchülerInnen selber erleben
sich dabei oft nicht als defizitär oder proble-
matisch, da die gesamte Unterstützungsmaß-
nahme im Rahmen der Klasse und des norma-
len Unterrichtes bleibt.
Zu diesem umfassenden Stützsystem gehören
auch die KlassenassistentInnen. In verschie-
denen Grundschulklassen arbeiten Assistenten,
die zusätzlich zur Lehrkraft in der Klasse sind und
mit einzelnen SchülerInnen auf Anweisung der
LehrerInnen, vertiefende Übungen machen oder
auch mit Kleingruppen zugewiesene Aufgaben
erledigen. Dies fordert vom Lehrer zunächst ein
größeres Engagement, aber nach einiger Zeit ist
das gemeinsame Arbeiten eingespielt und der
Lehrer wird deutlich entlastet.
Stützunterricht – Aufgabe der Schule
Sollte eine Schülerin/ein Schüler trotz der
verschiedenen Maßnahmen noch individuellen
Stützunterricht benötigen, wird dieser von der
Schule organisiert. Es gibt eine Lehrerin, die
diesen Unterricht koordiniert. Sie hat einen
Pool von Nachhilfelehrern, die in allen benötig-
ten Fächern die Schüler unterstützen können.
In Absprache mit den Lehrern bekommen die
Schüler zunächst nach dem Unterricht eine
gewisse Anzahl von Stunden, um ihre Defizite
aufzuholen. Neben dieser ganz individuellen
Förderung bietet die DS Helsinki seit kurzem
vier Mal in der Woche Fachwerkstätten an, in
denen die SchülerInnen mit Hilfe von Abituri-
enten Deutsch und Mathematik üben können.
Diese organisierte Nachhilfe ist keine Be-
sonderheit der Deutschen Schule, sondern fin-
nisches Bildungsprinzip. Das zeigt sich schon
daran, dass es in Finnland keine privaten
Nachhilfeschulen gibt. Für sie gibt es keinen
Markt, da die Schulen selber diese Aufgabe
übernehmen.
Das „Geheimnis“ der finnischen Bildung
Etliche Bildungsreisende, die zuvor in fin-
nischen Schulen hospitiert haben, sind irritiert.
Der Unterricht sah ganz normal aus, teilweise
habe es sogar wie Frontalunterricht gewirkt,
der Lehrer habe stark auf sich zentriert gear-
beitet. Auffällig sei allerdings die Ruhe in der
Schule gewesen, die SchülerInnen hätten alle
recht gelassen gewirkt.
So oder ähnlich erstaunt berichten Bildungs-
reisende und auch wir haben bei Besuchen in
finnischen Schulen diese Erfahrung gemacht.
Das Geheimnis der finnischen Bildung liegt
folglich nicht dort, wo es die deutsche Didak-
tik und Bildungsforschung seit Jahren sucht:
in speziellen Unterrichtssituationen, Gruppen-
arbeits- oder kooperativen Lernformen. Die
Kenntnis von schülerorientierten Unterrichts-
methoden ist das Handwerkszeug, das jede
Lehrkraft selbstverständlich beherrschen und
perfektionieren sollte. Aber ohne ein vernünf-
tiges System, das den Kern der Bildung, die
Beziehung von Lehrern und Schülern, im Blick
hat, ist jede noch so schöne neue Methode
bald abgenutzt und die Suche nach der nun
wirklich optimalen Methode geht weiter.
Das Geheimnis des finnischen Erfolges ist
die Summe all der beschriebenen Maßnahmen.
Es gibt keine spezielle finnische Unterrichtsme-
thode, das finnische Bildungssystem als sol-
ches ist die Erklärung für den Bildungserfolg.
Wenn man kein Kind zurück lassen will, muss
man auch die Lehrer mitnehmen, ihnen mit
Wertschätzung und Vertrauen begegnen und
ihnen mit Rat, Personal und Ressourcen zur Seite
stehen.
Rainer Devantié
Mehr zum Thema in:
Domisch/Klein: Niemand wird zurückgelassen.
Eine Schule für alle. Hanser 2012.
Das gemeinsame Essen trainiert sinnvolle Ernäh-
rungsgewohnheiten und soziale Fähigkeiten, die die
Grundlage für zufriedenstellenenden Unterricht sind.
Foto: DS Helsinki/Rainer Devantié
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