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PrekäreBeschäftigung im öffentlichenDienst
Was istmeine Arbeit wert?
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nds 6/7-2016
Prof. Dr. NorbertWohlfahrt
Professor für Sozialmanagement
an der EvangelischenHochschule
Rheinland-Westfalen-Lippe
Jobs imöffentlichenDienstgeltengemeinhinalseinesichereSache.Dochprekäre
Arbeits- undLebensverhältnissesind längstkeinRandphänomenderGesellschaft
mehr. Sie „normalisieren“ sich seit Jahren und sind in der gesellschaftlichen
Mitte angekommen – auch im öffentlichen Dienst, wo Beschäftigungsverhält-
nisse zunehmendausfasern.Wie kann es sein, dass ausgerechnet bei wichtigen
öffentlichenAufgabenbeim Personal gespartwird?
FürBeschäftigte imSozialsektor zählenNor-
malarbeitsverhältnisse längst nicht mehr zur
Normalität:Nur eineMinderheit kommt inden
GenusseinerVollzeitstelle,Teilzeitbeschäftigung
ist weitverbreitet und geringfügige Beschäfti-
gung hat einen hohen Stellenwert. Aber was
heißteigentlich„prekär“?Unterkapitalistischen
Produktionsbedingungen lebt derMensch von
dem, was er für denEinsatz seiner Arbeitskraft
bekommt, alsovonLohnoderGehalt.DerWert
der Ware Arbeitskraft ist dadurch bestimmt,
dass er in einer gegebenen Gesellschaft für
die Bestreitung des eigenen Lebensunterhalts
ausreicht. Nicht mehr und nicht weniger. Karl
Marx hat dies als den „Wert derWare Arbeits-
kraft“ bezeichnet. Ist die Vergütung geringer
als dieser Wert, dann reicht es nicht mehr zu
einer eigenständigen Lebensführung und die
Betroffenen sind auf zusätzliche Einkommens-
quellenangewiesen,um lebenzukönnen.Solche
Lebensumstände bezeichnetman als prekär.
Flexibilisierungum jedenPreis
DieProduktionvonPrekarität istalso inden
BeschäftigungsverhältnissenundderenVerände-
rungenzuverortenundhierfür istderöffentliche
Dienst imweitestenSinneeintreffendesBeispiel:
Infolgeunterschiedlicher Flexibilisierungs- und
Vermarktlichungsstrategien – dazu gehören
etwaPrivatisierung,Ausgliederungund interne
Flexibilisierung– istauch inBeschäftigungsver-
hältnissen imöffentlichenDienst derWert der
Ware Arbeitskraft unter das Niveau des zum
Lebensunterhalt Notwendigen gesunken und
damit Instrument einer zunehmenden Preka-
risierung geworden. Festzustellen ist, dass die
Tarifbindung abnimmt. Flächentarife sind im
gesamtenSozialbereichgarnichtmehrpräsent.
25ProzentderErzieherInnensind ineinemnicht-
tarifgebundenen Betrieb beschäftigt. Bei den
AltenpflegerInnensindesnachdemLohnspiegel
des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen
InstitutsderHans-Böckler-Stiftung (WSI) lediglich
39Prozent,dietarifgebundenarbeiten.Tarifliche
Entgeltewerdennichtflächendeckendgezahlt.
TariflicheAbsenkungenaufeindeutlichunter
demöffentlichenDienstgelegenesTarifniveau–
zum Beispiel in Notlagentarifverträgen –, Ent-
lohnung aufMindestniveau, Beschäftigung in
befristetenProjektenundTeilzeitbeschäftigung
sindAusdruckeinerFlexibilisierungderArbeit im
öffentlichenDienst, diedasklassischeBeschäf-
tigungsmodellmit einem zum selbstständigen
Leben tauglichenArbeitseinkommenerodieren
lässt. Um einige Beispiele zu nennen: In Kin-
dertageseinrichtungen arbeiten 47 Prozent
mit einem Stundenvolumen von weniger als
32 Wochenstunden. 2013 arbeiteten in der
stationären Altenpflege 41Prozent in Teilzeit
mit über 50 Prozent der regulärenArbeitszeit,
weitere16Prozentmitwenigerals50Prozentder
regulärenArbeitszeit. InderambulantenPflege
liegtbei21ProzentderArbeitnehmerInneneine
geringfügige Beschäftigung vor.
PerspektiveAltersarmut
Diese Entwicklung trifft vor allem Frauen.
Neben ihrersystematischenSchlechterstellung in
derBezahlungwird ihreTätigkeitnachwievorals
ZusatzverdienstangesehenundFrauenwerden
mit Beschäftigungsverhältnissen konfrontiert,
die ihnen eine eigenständige Lebensführung
unmöglichmachen.
ErzwungeneTeilzeitarbeit ist imSozialsektor
gang und gäbe. Sie führt nicht nur dazu, dass
dieBeschäftigtenandere, zusätzliche Erwerbs-
arbeitsquellen brauchen beziehungsweise als
AufstockerInnen sozialstaatliche Hilfen in An-
spruch nehmenmüssen. Sie hat auch zur Kon-
sequenz, dassnurmitgroßenEinschränkungen
eineeigeneAlterssicherungaufgebautwerden
kann. Prekäre Lebensumstände im Rahmen
einer aktiven Beschäftigung und ein Leben
am Rand der Armut im Alter gehen hier eine
zynische Symbiose ein. So wird deutlich: Das
Erwerbseinkommenmussnichtnurdieaktuelle
Lebensführungmöglichmachen, sondernauch
zur Vorsorge für Zeiten, in denen der Einsatz
der Arbeitskraft unmöglich ist, tauglich sein.
Dieses Verständnis von einem Gehalt als
Mittel für einganzes Leben ist – nicht nur – im
öffentlichenDienstabhandengekommen.Wenn
dieunbefristeteVollzeitbeschäftigungnicht zur
Regel, sondern zur Ausnahmewird, dann sind
zunehmendeTeileauchder arbeitendenBevöl-
kerungauf sozialstaatlicheHilfenangewiesen,
umüberhaupt leben zukönnen. So sind schlus-
sendlichdiejenigen, ausderenEinkommen sich
derSozialstaatfinanziert,auf sozialeLeistungen
angewiesen. Dem Teufelskreis der Prekarität
entkommen sie damit nicht.
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Foto: sol-b/photocase.de
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