nds 5-2012
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swahl.gew-nrw.de +++
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nartikulierte Schreie aus dem Wohnbereich? Kein Grund
zur Sorge. Da läuft nur die Sportschau mit den Bundesli-
ga-Ergebnissen. Fußball – da wachsen friedliebenden und
humorvollen Männern Hörner. Ein beeindruckendes Erlebnis hatte
ich in dieser Hinsicht auf dem Betzen in Kaiserslautern. Zwei wohl-
erzogene Gymnasiasten mit Peace-Aufnähern nahmen mich mit
und sangen im Stadion dann voller Empörung: „Oh, hängt sie auf,
die schwarze Sau!“, als der Schiri ihrer Ansicht nach die roten und
gelben Karten verwechselte.
Rechtzeitig zur EM schleppt mein Partner einen neuen Flach-
bildfernseher an. Das Gerät mit dem Format einer mittleren Kin-
oleinwand versperrt mir den Blick in den Garten. „Der war ganz
billig!“, beteuert mein Partner und braucht Stunden, um die rich-
tigen Sender einzustellen. Unser zweiter Fernseher ist ein uraltes
Röhrengerät. An dem winzigen Bildschirm kann man unmöglich
wichtige Spiele verfolgen. Honigsüß bittet mich mein Partner, das
ARTE-Bildungsprogramm die nächsten Wochen unterm Dach zu
goutieren. Wenn ich alle Luken schließe, höre ich fanatisierte Re-
porter, Anfeuerungsrufe und Wutgebrüll ein wenig gedämpfter.
Um mich herum mutieren Menschen. Sie diskutieren Spielpläne
und bangen um deutsche Chancen. Sie jammern, weil wir gegen
Portugal und Holland starten müssen, wo es doch gegen Irland
und Polen so viel einfacher wäre. Unser Nachbar hat seine Fen-
stergitter mit Deutschlandfahnen geschmückt. Im Kaufhaus gibt
es auf dem Krabbeltisch alle Arten von Tröten und Fanfaren. Kein
einziges deutsches Tor wird mir unterm Dachboden entgehen. Zu-
mal der andere Nachbar stets Feuerwerk zündet, wenn eine hoch
bezahlte Sportlerwade mal nicht die Latte getroffen hat. Ein Kol-
lege hat im Lehrerzimmer ein Wettbüro eingerichtet. In jeder Pau-
se stehen Schüler an, um Tippscheine abzugeben. Der Wetterlös
kommt unserem Sportplatz zugute, insofern hat niemand was ge-
gen Glücksspiel in der Schule. Auch Frauen sind infiziert und erör-
tern das Spielermaterial auf der Ersatzbank. Meine dummen Be-
merkungen zum Thema Fußball werden ignoriert. Selbst meine be-
tagte Mutter schließt sich einer Tippgemeinschaft an. (Und ganz
nebenbei: Bei der letzten WM hat sie gewonnen!!!)
Mein Neffe bastelt eine Homepage zur Fußball-EM. Mir gefal-
len dort vor allem die bierseligen Gästekommentare und die
holländerfeindlichen Witze – wobei man Holland durch jede an-
GLOSSE
„Der Ball ist rund, und ein Spiel
dauert 90 Minuten“
Über ein hohes Kulturgut
dere missliebige Konkurrenznation ersetzen könnte. Die Homepa-
ge wird durch Werbung finanziert: Fanartikel für jeden Ge-
schmack! Zum Beispiel kleine neckische Fußballtore. Die kann
man daheim ins Urinal setzen und zielpinkeln üben. Schwarzrot-
gelbe Perücken, Sonnenbrillen, Hasenohren, Schweißbänder und
falsche Wimpern in den Nationalfarben – für jede/n ist etwas da-
bei. Manche Schüler tragen statt Jacken jetzt Fahnen um die
Schultern. Wie ihre Fußball-Idole spucken sie bei jeder Gelegenheit
auf den Boden. Andere malen sich schwarzrotgelbe Rechtecke auf
die Wange.
Im Internet finde ich unter „Deutsche Akademie für Fußballkul-
tur“ hinreißende Weisheiten von namhaften Trainern und Spielern.
Davon zitiere ich immer eine zum Frühstück: „Fußball ist wie Schach,
nur ohne Würfel“. Podolski hat sich dagegen verwahrt, dass der
Spruch von ihm stammt. Na gut, es gibt ja auch andere Blondinen.
„Mailand oder Madrid, egal, Hauptsache Italien!“, verkünde ich am
nächsten Morgen. Mein Partner lächelt gequält und verschwindet
hinter dem Sportteil. „Wir dürfen jetzt nicht den Sand in den Kopf
stecken!“, lege ich nach, ernte aber nur beleidigtes Schweigen.
In diesen vier EM-Wochen müssen Elternabende und Schülerkon-
zerte sorgfältig terminiert werden, weil niemand kommt, wenn
Deutschland spielt. Als Lehrerin muss ich selbstverständlich aktuel-
le Themen aufgreifen. Insofern behandle ich in Musik Nationalhym-
nen, in meinen Grammatikaufgaben tummeln sich Schweini, Özil
und Neuer als Angriffssubjekte und Verletzungsobjekte und beim
Aufsatz muss meine 10. Klasse erörtern, ob moderner Men-
schenhandel in Form von Fußballerkäufen eingeschränkt werden
sollte. Im Sportteil lese ich die Überschriften und kann etliche
Schüler mit meinem Halbwissen blenden: „Also die Kroaten haben
richtig gut gekämpft, aber gegen die Italiener hatten sie wenig
Chancen. – Warum sagt den Griechen eigentlich niemand, wo das
Tor ist?“ Wenn die Entscheidungsspiele laufen, werde ich mir einen
Traum erfüllen und durch menschenleere Straßen zu einem einsa-
men Badesee fahren. Es sei denn, Deutschland spielt gegen Spani-
en oder Holland. Für diesen Fall halte ich noch eine ausrangierte Vu-
vuzela bereit.
Gabriele Frydrych
Kontakt E-Mail:
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