THEMA
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Ein Gedankenexperiment: Wir nehmen ein
Verkehrsschild Tempo 30, stellen es auf die
Straße und beobachten, was passiert. In einem
ersten Versuch stellen wir das Schild in ein
Wohngebiet.
Wir beobachten: 1. Kaum jemand fährt wirk-
lich 30, die wenigen, die es tun, werden ange-
hupt oder ausgelacht. 2. Die meisten fahren
höchstens 40, also wohl immerhin langsamer,
als sie es ohne das Schild täten.
Offenbar liegt es uns Menschen nicht so
sehr, Regeln ganz genau umzusetzen. Die
erste Erkenntnis unseres Experiments betrifft
die Erwartungshaltung, die wir Regeln und
deren Umsetzung in der Schule entgegen-
bringen sollten. Wenn eine Regel von den
meisten Kindern weitgehend befolgt wird,
dann dürfen wir zufrieden sein. Mehr ist mit
vernünftigen Mitteln nur sehr kurzfristig,
nicht aber dauerhaft erreichbar.
Stellen wir das gleiche Schild in einem zwei-
ten Versuch auf die Autobahn. Wir beobachten:
1. Niemand fährt 30 km/h. 2. Viele schütteln
den Kopf, die meisten aber fahren mit unver-
ändertem Tempo weiter.
Die zweite Erkenntnis: Offenbar hinterfra-
gen Menschen vorgegebene Regeln, bevor sie
entscheiden, ob sie sie umsetzen wollen. Und
während der Sinn des Schildes im Wohnge-
biet den meisten Menschen einleuchtet, ver-
missen sie ihn auf der Autobahn.
Auch Kinder hinterfragen Regeln
Allerdings hinterfragen sie diese weniger
als Erwachsene. Erstklässler nehmen viele Re-
geln so hin, wie sie von Erwachsenen vorgege-
ben werden. Je älter die Kinder werden, desto
mehr hinterfragen sie den Sinn jeder Regel
und machen ihr Verhalten davon abhängig.
Über Regeln muss in der Klasse also schon
aus diesem Grund so gesprochen werden, dass
die Kinder ihren Sinn verstehen. Zur Klarstel-
lung: Ich meine damit nicht, die Regeln ergeb-
nisoffen auszudiskutieren. Ich meine aber auch
nicht „Das seht ihr doch sicher alle ein.“ Gut ge-
eignet finde ich, Regeln mit etwas Lenkung ge-
meinsam zu erarbeiten und an Beispielen kon-
kret zu machen, wo richtiges Verhalten endet
und wo falsches anfängt.
„Wir gehen leise durch das
Schulgebäude”
Dabei dürfen und sollten Regeln immer wie-
der auch überdacht und in Frage gestellt,
manchmal auch für bestimmte Phasen ausge-
setzt werden. Denn die meisten Regeln in der
Schule sind nicht für sich allein genommen
sinnvoll. Genausowenig wie Tempo 30 ortsun-
abhängig eine sinnvolle Geschwindigkeit wäre.
„Wir gehen leise durch das Schulgebäude“
macht Sinn, wenn ich morgens nach Unter-
richtsbeginn mit meiner Klasse in den Musik-
raum wechseln will. Wenn wir am Ende der
zweiten Stunde und zu Beginn der großen Pau-
se zurück gehen, um die Schuhe anzuziehen,
bricht auf den Fluren das Chaos aus und die-
selbe Regel wird absurd. Eine Regel kann also
um 8.10 Uhr sinnvoll und um 9.30 Uhr unsin-
nig sein. Die Kinder sehen das und verhalten
sich entsprechend. Wir sollten es ebenfalls tun.
Im Weiterbildungsprogramm des DGB-Bil-
dungsswerkes werden Seminare zum Thema
„Schwierige Kinder – Schwierige Klassen –
Was tun, wenn’s brennt?” angeboten. Die
nächste Weiterbildung findet im August statt
(vgl. S. 32 dieser nds). Alle Angebote finden
Sie unter:
In diesem Schwerpunkt werden ausgewähl-
te Aspekte des Themas dargestellt. Zunächst
werden die Überlegungen zum Umgang mit
Regeln aus schulpraktischer Sicht fortgeführt.
Dann beschreibt Dieter Ginuttis beispielhaft
einen Schüler mit Verhaltensproblemen, wie
sie bei vielen jungen Menschen zu finden sind,
und schlägt mögliche pädagogische Hilfestel-
lungen vor. Ruppert Heidenreich zieht aus sei-
ner langjährigen Supervisionserfahrung den
Schluss: Erziehungsschwierigkeiten spielen
sich nicht nur in der Schule, sondern auch in
der Familie und in der Gesellschaft ab. Nur wer
sich Hilfe und Unterstützung holt, hat es leich-
ter und kann etwas bewirken.
Jens Bartnitzky
Dr. Jens Bartnitzky
Lehrer für Sonderpädagogik,
arbeitet im Gemeinsamen
Unterricht an Wittener Grund-
schulen; Lehrerfortbildungen.
Infos:
Unterrichtsstörungen – was tun?
Keine Erziehung ohne Beziehung
Transparenz und Konsequenz im Umgang mit Regeln
Wie schnell fahren Sie bei Tempo 30?
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Foto: Bert Butzke