THEMA
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Dieter Ginnuttis
Sonderpädagoge an der
Janusz-Korczak-Schule in
Heinsberg
Wenn Sanktionen nicht helfen
Man muss diese Kinder mögen
Das war 1968, ich war junger Lehrer an
der gerade in NRW neu geschaffenen Haupt-
schule. Auf alles war ich vorbereitet, nur nicht
auf 49 pubertierende Schülerinnen und
Schüler, die mir alles abverlangten, mich per-
sönlich herausforderten, die zu jeder Gele-
genheit in die Klasse hineinriefen, die in der
Enge des Raumes ihre Aggressionen ausleb-
ten, die ständig mit 1.000 Aktivitäten unter
und über der Bank beschäftigt waren.
Sanktionen (Strafarbeiten, Nachsitzen, No-
tendruck) funktionierten nur kurzfristig, wa-
ren aber langfristig wirkungslos. Schwierige
Schülerinnen und Schüler? Oder was war
schwierig?
Erst nach und nach begriff ich, dass und
warum die Sanktionen nichts veränderten. So
veränderte ich meine Strategie: Ich ging hin
und wieder mit einigen von ihnen zum Aa-
chener Tivoli zum Fußball, ich konnte eine
Gruppe motivieren, mit mir eine Schülerzei-
tung zu produzieren, wir führten mit viel Er-
folg ein Theaterstück auf, nahmen am Karne-
valszug der Schulen teil, machten mehrere
Klassenfahrten. Damals entstand mein päda-
gogisches Credo: Keine Erziehung ohne Be-
ziehung!
Keine
Er
ziehung ohne
Be
ziehung
Nach fünf Jahren Hauptschule studierte
ich Sonderpädagogik, Fachrichtung Erzie-
hungsschwierigenpädagogik. Danach Aufbau
einer Schule für Erziehungshilfe (E), radikaler
Wechsel der Bedingungen: sieben Schüler, ei-
ne Schülerin, Erstlese- und Schreibunterricht.
Andreas saß am liebsten auf dem Schrank, er
weigerte sich einfach, am Lese- und Schreib-
unterricht teilzunehmen und kasperte herum.
Ich war schon froh, wenn er im Gruppenraum
saß und mit Kopfhörern Musik hörte und
nicht störte. Eines Tages setzte ich mich neben
ihn, nahm die Fibel in die Hand, schlug wahl-
los eine Seite auf und sagte ihm: „Das heißt
Oma!“ Er stieg auf mein Lernangebot ein.
Fortan wiederholten wir das Ritual mit der
Fibel jeden Tag, ihm gehörte täglich eine Vier-
telstunde mit mir im Gruppenraum. Er lernte
trotz meiner eigenwilligen Methode innerhalb
des ersten Schuljahres Lesen und Schreiben.
War Andreas schwierig? Was hat gewirkt?
E–Schüler?
Mit denen kann ich es nicht!
Später als „Fachleiter für E“ saß ich in einer
Klasse, beobachtete Unterricht und besprach
ihn anschließend mit den Lehramtsanwärte-
rinnen und -anwärtern (LAA). Ich merkte
bald: Es gab LAA, die kamen mit ihren Schü-
lerinnen und Schülern klar, es gab andere, die
jedes Mal die schwierige Situation beklagten,
die immer wieder mit denselben SchülerInnen
die gleichen Konflikte hatten, die auf den un-
terschiedlichsten Wegen intervenierten, aber
erfolglos blieben. Worin lag der Unterschied?
Nachbesprechungen leitete ich oft mit der
Frage ein: „Was hat Sie heute in Ihrem Unter-
richt positiv überrascht?“ Wenn ein Schüler be-
sonders stark gestört bzw. den Unterricht er-
schwert hat: „Was mögen Sie an diesem Schüler
gut leiden, der Sie heute so geärgert hat?“ An-
fangs fanden LAA die Fragen verwirrend oder
deplaziert.
Fast mein ganzes Leben, privat und beruflich, haben mich Schülerinnen und
Schüler mit Problemen und Schwierigkeiten begleitet. Ich habe sie aus ver-
schiedenen Perspektiven und Rollen wahrgenommen. Heute zweifle ich, ob die
Schülerinnen und Schüler schwierig sind oder ob nicht eher Rahmenbedingun-
gen und Umstände für die Schwierigkeiten verantwortlich sind und eine ange-
messene Förderung erschweren. Was habe ich durch meine unterschiedlichen
Perspektiven für den Umgang mit diesen Schülerinnen und Schülern gelernt?
Und was können die heutigen Lehrkräfte in den Schulen davon gebrauchen?
p us
Entscheidend dafür, dass Peter sich ausrei-
chend stabilisiert, werden seine künftigen Er-
fahrungen sein. In seiner Wirklichkeit konnte er
mit den alten Verhaltensmustern bestehen.
Wer sich ändern will, muss auch wissen,
wofür oder für wen. Veränderungen müssen in
der Lebenswirklichkeit einen Sinn haben. Wie
also werden seine beruflichen Chancen ausse-
hen in einer immer noch äußerst exklusiven, ge-
sellschaftlichen Wirklichkeit? Peters Beispiel ist
völlig reduziert dargestellt, und es ist auch nicht
besonders spektakulär. Peter ist einer von vielen
aus dem schulischen Alltag.
Aktuell haben wir es mit einer zunehmen-
den Zahl von Kindern und Jugendlichen zu
tun, die nur sehr schwierig erreichbar sind.
Frühkindliche Traumatisierung, das Fehlen
von Erziehungs- und Bindungsgrundlagen in
der familiären Erziehung, die gehirnverän-
dernde Macht medialer Dauerberieselung
(Stichworte: Battlefield, Modern Warfare,
World of Warcraft, Durchfallmann oder
„Schnell, schieß mir ins Gesicht“), Drogen,
Mobbing, Gewalt, aber auch Angststörungen
sind Dauerthemen.
Eine sinnvolle Arbeit mit auffälligen Kindern
und Jugendlichen ist eine der am stärksten be-
lastenden Bedingungen des Lehrerberufes. Sie
erfordert pädagogische Haltung und die Bereit-
schaft, Verantwortung zu übernehmen. Wer Ver-
antwortung übernimmt und Veränderungen
herbeiführt, unterschreibt damit kein Schuld-
eingeständnis für die Probleme, die er angeht.
In diesem pädagogischen Arbeitsfeld geht
es nicht darum, die Rolle eines nur betroffe-
nen, empathischen Zuschauers einzunehmen
und auch nicht darum, wie praxisferne Exper-
tInnen es oft unterstellen, Kinder und Jugend-
liche „abzuschulen“. Wir können Hilfestellun-
gen arrangieren, die es schwierigen SchülerIn-
nen ermöglicht, „reelle und reale Chancen zu
erhalten, zwischen Hölle auf Erden und Him-
mel auf Erden die Alltäglichkeit von Erde auf
Erden zu erfahren und allmählich selbständig
zu bewältigen“. Diese Arbeit kann in der allge-
meinen Schule gelingen, gerät aber auch an
Grenzen, die in einem schulischen Setting
nicht mehr auffangbar sind.
Dieter Ginnuttis
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