Vor Schuljahresbeginn waren die Lehre-
rInnen sehr besorgt, ob sie ein Kind wie
Daniel in den Unterricht integrieren können.
Bei Daniel wurde atypischer Autismus und
eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-
störung (ADHS) festgestellt. Damit fällt er
unter den Förderschwerpunkt Geistige Ent-
wicklung. Heute empfinden alle Daniel als Be-
reicherung. Von der Deutschlehrerin ist Daniel
zum Rechtschreibexperten ernannt worden.
Er geht von Tisch zu Tisch und gibt hilfreiche
Tipps: „Hier fehlt ein ‚s’. Das ist falsch, das
muss ein ‚d’ sein.“ Daniel wird akzeptiert. Es
scheint, als habe er seinen Platz gefunden
an der Europaschule, einer Schulform des
längeren gemeinsamen Lernens.
Voneinander profitieren und lernen
Die Europaschule Rheinberg (ESR), Gemein-
schaftsschule der Sekundarstufen I und II,
kann sich auf dem Weg zu einer inklusiven
Schule einerseits auf die langjährigen integra-
tiven Erfahrungen der Hauptschule Rheinberg
verlassen. Andererseits kann sie sich auf ein
gut funktionierendes Kooperationsnetz stüt-
zen zwischen dem Schulamt Kreis Wesel, dem
Schulverwaltungs- und dem Jugendamt der
Stadt Rheinberg, den Rheinberger Grundschu-
len und dem Kompetenzzentrum für Sonder-
pädagogik mit den Schwerpunkten Lernen,
Sprache, emotionale und soziale Entwicklung.
Basierend auf diesen Erfahrungen werden an
der ESR pro Jahrgang etwa zehn SchülerInnen
(6,6 Prozent) mit unterschiedlichem sonder-
pädagogischen Förderbedarf aufgenommen.
Die Schultafel klappt auf und gibt zwei bunte Plakate mit Kriterien für Interview-
fragen frei. Daniel* ist überrascht. Ganz aufgeregt ruft er seiner Deutschlehrerin
zu: „Die hast du da hingehängt.“ Auf seinem Stuhl rutscht er unruhig hin und
her. Die Lehrerin fragt, ob er die Plakate nicht vorlesen wolle. Daniel nickt und
beginnt mit kleineren Stockungen laut und verständlich vorzulesen. In der Klasse
ist es ganz leise geworden. Die MitschülerInnen hören Daniel aufmerksam zu.
Die Gemeinschaftsschule auf dem Weg zur Inklusion
Inklusionsnetzwerk mit Erfahrung
Die fünf zieldifferent zu unterrichtenden Schü-
lerInnen je Jahrgangsstufe sind zurzeit einer
Klasse zugeteilt. Alle weiteren integrativen,
zielgleich zu unterrichtenden SchülerInnen wer-
den auf die Parallelklassen aufgeteilt. In jeder
Jahrgangsstufe erhalten die LehrerInnen von
sonderpädagogischen Kräften Unterstützung,
die möglichst auch in der integrativen Klasse
als KlassenlehrerInnen eingesetzt werden.
Jedes Kind ist einzigartig
An der ESR geht die Betreuung noch wei-
ter und betroffene SchülerInnen bekommen
ganz persönliche Unterstützung durch ihre
Integrationshelfer. Außerdem gibt es Inklusi-
onshelferInnen – eine/n pro Jahrgangsstufe –,
die von der Stadt finanziert werden und mit
20 Wochenstunden im Einsatz sind. Eine
inklusive Unterrichtsgestaltung wird dadurch
deutlich erleichtert.
Um auf die Unterschiedlichkeit und Indi-
vidualität jedes einzelnen Kindes – mit und
ohne Beeinträchtigung – eingehen zu können,
favorisiert die ESR offene Unterrichtsformen:
Neben Werkstattunterricht in Naturwissen-
schaften und Gesellschaftslehre steht Projekt-
arbeit in dem neuen Lernbereich „Lebens-
befähigung und Berufsvorbereitung“ (LuB)
auf dem Stundenplan, sodass sich einzelne
SchülerInnen auf ihre ganz eigene Art und
Weise einfinden und auf ihrem Niveau mit-
arbeiten können. Kooperative Lernformen im
traditionellen Fachunterricht bieten zusätzlich
die Chance, durch gegenseitige Hilfe Stärken
zu fördern und Schwächen auszugleichen.
Das kompetenzorientierte Lernen erfordert
auch eine neue Form der Leistungsbewertung
und Leistungsrückmeldung, die sich auf Lern-
berichte mit Zielvereinbarungen stützen, in
denen Ziffernoten keine oder zumindest nur
eine untergeordnete Rolle spielen dürfen.
Neue Wege gehen
Als Schwerpunktschule für Inklusion hat
die Gemeinschaftsschule ESR in der Vergan-
genheit vielfältige und vorwiegend positive
Erfahrungen gemacht. Diese sind natürlich
eng mit der reformpädagogischen Schulent-
wicklung verbunden. Schulleitung und Kolle-
gium haben ihre Haltung schnell geändert.
Seit mehr als zwei Jahren stellen sich alle
gemeinsam die Aufgabe, jedem Kind seinen
individuellen Entwicklungslauf zu ermögli-
chen und dazu mit allen Beteiligten in ver-
bindlichen organisatorischen Strukturen zu-
sammenzuarbeiten. Für das Gelingen einer in-
klusiven Schulentwicklung müssen neue Ziele
definiert und neue, manchmal ungewöhnliche
Wege gegangen werden.
Claudia Giesen-Reinartz, Norbert Giesen
Alle KlassenkameradInnen lernen gemeinsam – auch
außerhalb des Unterrichts beim Windsurfen (links).
Sitzordnung mal anders: Im Stuhlkreis lässt es sich viel
besser miteinander lernen (rechts).
Fotos: ESR
Europaschule Rheinberg
p us
Claudia Giesen-Reinartz
Klassenlehrerin an der Europaschule
Rheinberg und Fachleiterin am
Zentrum für schulpraktische Lehrer-
ausbildung Kleve
Norbert Giesen
Schulleiter der Europaschule
Rheinberg
* Name von der Redaktion geändert.