Der Matthäus-Effekt
Dieser Effekt ist in der internationalen
Wissenschaftsforschung eine feste Größe. Ge-
meint ist damit, dass Versprechen auf künf-
tige Leistungen etwa in Forschungsförder-
anträgen auch immer im Lichte des Umfangs
vergangener Förderungen bewertet werden.
Damit verbunden ist ein – tatsächlich leis-
tungsindifferenter – Selbstverstärkermecha-
nismus (self fullfilling prophecy), der eine zu-
nehmend ungleiche Finanzmittelkonzentrati-
on in nationalen Hochschulsystemen bewirkt.
Exakt dies entspricht der Kritik des Darmstäd-
ter Elitesoziologen Michael Hartmann an der
Exzellenzinitiative: Diese würde gerade durch
gezielte Finanzallokation die Unterschiede in
den materiellen Leistungsbedingungen über-
haupt erst produzieren – oder vertiefen –, die
sie dann anschließen zu messen behauptet.
Die durch die Zusatzfinanzen ermöglichte
(messbare) Mehrleistung im Verhältnis zu den
unterfinanzierten „restlichen“ Hochschulein-
richtungen rechtfertigt dann wiederum die ur-
sprüngliche Förderentscheidung. Wir befinden
uns in einem ideologischen Zirkel.
Vermehrung des symbolischen Kapitals
Viele haben sich die Frage gestellt, warum
mit den vom Bundestag bewilligten Exzellenz-
finanzen nicht einfach das Budget der DFG
– möglicherweise mit den gleichen Förderre-
sultaten – erhöht wurde?
Mit der Exzellenzinitiative hält eine völlig
neuartige Logik der Forschungsförderung Ein-
zug in das deutsche System. Antragsberech-
tigt in traditionellen Förderprogrammen des
sog. Drittmittelsektors sind einzelne Wissen-
schaftlerInnen. Erfolge der jeweiligen Projekte
werden folglich auch primär der individuellen
akademischen Reputation zugerechnet.
Antragsberechtigt in der Exzellenzinitiative
sind ausschließlich ganze Institutionen, näm-
lich Universitäten vertreten durch ihre Lei-
tung. Man darf vermuten, dass dieses Novum
vor allen Dingen den Zweck verfolgt, Erfolge
in der Exzellenzinitiative auch für die Presti-
gesteigerung der jeweiligen Uni, kurz: für die
Vermehrung ihres symbolischen Kapitals zu
nutzen, dem dann materielle Investitionen
– auch aus dem Privatsektor – auf den Fuß
folgen sollen.
Bei einer bloßen Budgeterhöhung der DFG
wäre dieser symbolische Effekt der Konstruk-
tion einer Premium League von Hochschu-
len in der „normalen“ Forschungsförderung
versickert. Viele Kritiker wie der Bamberger
Soziologe Richard Münch kommen dann auch
zu dem Schluss, dass diese symbolische Stand-
ortaufwertung mit Blick auf die internationale
Wissenschaftskonkurrenz vor jedem Interesse
an tatsächlichem wissenschaftlichem Erkennt-
nisfortschritt rangiert.
Zweitrangigkeit legitimiert
Unterfinanzierung
Selbst wenn sich an den nicht-exzellenten
Hochschulbereichen äußerlich nichts ändert,
werden diese durch das Programm auto-
matisch in der Status der Zweitrangigkeit
befördert, die Unterfinanzierung wird legiti-
miert und stabilisiert, den wissenschaftlichen
Nachwuchs zieht es an die Exzellenzstandorte.
Von vielen dieser Standorte werden gleich-
zeitig heftige Verteilungskämpfe gemeldet,
weil die Exzellenzbereiche gerne auch auf
Ressourcen des „Normalbetriebes“ zugreifen.
Fazit: Zugunsten der Prestigesteigerung
„exzellenter“ Leuchttürme werden die wis-
senschaftlichen Arbeitsbedingungen in ge-
schätzten 95 Prozent des Hochschulsystems
verschlechtert. Dass dadurch dessen gesell-
schaftlich relevante Leistungsfähigkeit gestei-
gert würde, muss bezweifelt werden.
Torsten Bultmann
Jahrbuch für Pädagogik 2012
Schöne neue Leitbilder
Redaktion Sven Kluge
(Uni Duisburg-Essen und
Ingrid Lohmann (Uni Hamburg)
Verlag Peter Lang, Pieterlen/
Schweiz 2012, 365 Seiten,
ISBN 978-3-631-62455-4, 36 Euro
Gegenwärtig findet eine Wiederbe-
lebung liberaler und konservativer Deu-
tungsmuster statt, während weiterhin
neoliberale Leitbilder das Bildungs- und
Hochschulwesen prägen. Die neuen
Muster tragen mehr zur Verbreitung
affirmativer Haltungen bei, anstatt die
Fähigkeit der Subjekte zu Kritik und
Widerstand zu stärken. Die Beiträge
in diesem Jahrbuch untersuchen die
neuen Konservatismen und Leitbilder
von Bürgerlichkeit und nehmen eine
kritische Inspektion des Leitbildes des
Unternehmerischen vor. Sie setzen sich
dabei intensiv mit dem 30-seitigen Pa-
pier „Die Hochschule der Zukunft – Das
Leitbild der Wirtschaft“ vom Bundes-
verband der Deutschen Industrie (BDI)
und der Bundesvereinigung der Deut-
schen Arbeitgeberverbände (BDA) aus-
einander, das eine umfassende Vision
der Hochschule im Jahr 2020 enthält,
für deren Umsetzung „die Wirtschaft“
nachdrücklich werben will.
Resümee: Trotz der Differenzen, die
es bei den neuen Leitbildern gibt, stel-
len die AutorInnen gemeinsame Ten-
denzen fest. Dazu gehört die konformi-
stische Entleerung des Bürgerbegriffs
,der um seine kritischen Dimensionen
beschnitten wird. Das Ordnungsbild der
„Mitte“ fungiert dabei als Exklusions-
und als Erziehungsmaßstab. Stichworte
sind: Moral, Lebensführung, Eigenver-
antwortung und (Selbst-)Regierung.
Dabei kommen auch repressive Ent-
wicklungen in den Focus, etwa die
massive Engführung des Demokratie-
und Mündigkeitsprinzips. AutorInnen
des Jahrbuchs sind u.a. Heinz-Elmar
Tenorth, Torsten Bultmann, Michael
Th. Greven, Beat Weber, Hannelore
Bublitz, Sven Kluge und Bernhard
Claußen.
Se