Glosse
Ein Traumjob Hart, aber fair
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nds 11/12-2012
oder
N
icht um Bettina Wulf, nicht um Griechenland geht es in „Hart, aber fair“
am 8.10.12, sondern um die Arbeitsbelastung und Streikbereitschaft von
Ärzten. Gegen Ende der Sendung verliest die Assistentin Zuschauer-Mails.
Ein junger Mann schreibt, sein Vater sei Landarzt und arbeite in der Woche
80 Stunden. Er selber arbeite als Dorfschullehrer nur 30 Stunden pro Woche,
verdiene aber mehr als sein Vater. Die Diskussionsrunde schaut irritiert. Die
Assistentin lächelt: „Das steht hier wirklich!“
Wo ist diese Schule? In einem Sprengel auf der schwäbischen Alp?
In Bayern hinter den sieben Bergen? In einem Funkloch im Thüringer
Wald? Im „Tal der Ahnungslosen“ im Erzgebirge? Ich will sofort dahin!
Da scheint die Welt noch in Ordnung zu sein! Kein Internetsignal,
kein Privatfernsehen verdirbt das Familienleben. Lehrer und Pfarrer
haben das Zepter noch fest in der Hand und die Jugend im Griff. Die
Erwachsenen beugen das Haupt, wenn sie dem Lehrer begegnen. Sie
bringen ihm Geselchtes und Selbstgebrannten. Die Schüler hacken sein
Holz und jäten sein Unkraut. Sozialisationsarbeit wird von Großfamilie,
Karnevalsverein und Schützengilde geleistet. Jugendliche lallen abends
nicht vorm Spätkauf rum, sondern engagieren sich im Fanfarenzug und
bei der Freiwilligen Feuerwehr. Nur in so einer Umgebung könnte ein
Lehrer eventuell mit fünf Arbeitsstunden pro Werktag auskommen…
Bei den paar Dorfschülern hat er nicht viel zu korrigieren. Ausführliche
Elterngespräche und zeitintensive Konferenzen entfallen. Als Ich-Team
fasst er sämtliche Beschlüsse mal kurz beim Bergwandern oder Pilze-
suchen. Dieser Dorflehrer braucht in seiner Idylle keine Gewerkschaft,
die für ihn Tarifverhandlungen führt und Altersermäßigung erkämpft.
Mein Mann grinst: „So ein Dorf gibt es nur bei Asterix und Obelix.“
Das bringt mich noch mehr ins Grübeln. Ist der junge Lehrer aus „Hart,
aber fair“ ein Lebenskünstler, ein Zauberer? Schickt er Problemschüler
einfach zu seinem Vater, dem Landarzt? Kein Wunder, dass der so über-
lastet ist. Vielleicht ist der junge Mann ein fauler Sack und es hat nur
noch niemand gemerkt, dass sich in seinem Keller die Klassenarbeiten
stapeln? Oder bei ihm greift endlich die neue anspruchsvolle Lehreraus-
bildung? Spitzenkräfte an der Uni vermitteln magische Methoden und
didaktische Geheimrezepte, die das Lehrerleben so erleichtern, dass
man nur noch gefühlte 30 Stunden arbeitet?
Schade, dass ich als Studentin solchen pädagogisch-didaktischen
Superhirnen nie begegnet bin. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl,
dass sich einige geradezu panisch an die Uni geflüchtet hatten, um ja
nicht im Schulalltag zu landen – wo neuerdings mein Neffe arbeitet.
Als Grundschullehrer in Berlin-Mitte. Er berichtet – als Berufseinsteiger
noch halbwegs amüsiert – von seinen Erlebnissen, etwa von Eltern, die
hilflose oder überhaupt keine Erziehungsversuche unternehmen.
„Ercan hat immer dunkle Ringe unter den Augen? Weil er mit seinen
älteren Brüdern bis 24 Uhr fernsieht? Das ist typisch mein Sohn! Er
weiß genau, dass er um 21 Uhr ins Bett soll!“ Eine andere Familie
wird gewarnt, dass ihr überalteter Viertklässler auf dem besten Weg
in den Jugendknast ist.
Die Mutter antwortet nicht ohne Stolz: „Das ist gut, da wird er ein
richtiger Mann!“ Mein Neffe bringt seinen Schülern Dinge bei, für die
früher mal Eltern oder Geschwister zuständig waren: Fahrradfahren.
Sich einmal drehen, ohne umzufallen. Rückwärts laufen. Schnürsenkel
zubinden, Nase putzen. Eine Schere, eine Gabel und einen Stift richtig
halten. Er berichtet von einem Schüler, der in der Pause einen anderen
anpinkelt. Und von einer Familienhelferin, die dazu meint: „Wir müssen
uns fragen, was Malcolm damit zum Ausdruck bringen will!“
In der Klasse meines Neffen sind fünf Kinder mit offiziell aner-
kanntem Förderbedarf. Und weitere zehn, die eine Anwartschaft
auf diesen Status hätten, wenn ihre Eltern am selben Strang wie
die Lehrer ziehen würden. Der Kollege, der zur Unterstützung für
die Förderkinder eingesetzt ist, wird vom Schulleiter häufig zum
Vertretungsunterricht geschickt. Mein Neffe googelt, beamt und
white-boarded nur so. Kopiert stapelweise fürs individuelle Lernen,
bastelt Diktate, je nach Fehlerschwerpunkt der einzelnen Kinder.
Hat im Lehrerzimmer 24 leere Keksdosen, für jeden Schüler eine. Bei
der „Keksdosenmethode“ bekommen die Kinder 20 laminierte Sätze.
Jeder andere! Wenn sie einen fehlerfrei abschreiben können, werfen
sie den Streifen in ihre Keksdose. Dieses Wegwerfen soll ungemein
motivieren! Das ist nur eine der genialen Methoden, die mein Neffe
beherrscht. Nebenbei schreibt er Förderpläne, Elternbriefe, Anträge
für Klassenfahrten, Wandertage und Projekte. Rennt zu Fortbil-
dungen auf der Suche nach dem ultimativen Ratgeber für verhalten-
soriginelle Schüler wie Paul (11): „Nee, mach ick nich, schreib ich nich
ab. Is mein Leben!“ Mein Neffe ist verzweifelt, dass trotz all seiner
Anstrengungen Berlin bei einem Leistungsvergleich der Viertklässler
auf dem letzten Platz gelandet ist.
„30-Stunden-Woche? Ein Lehrer???“ Mein Neffe zeigt mir einen
Vogel. „Dass ich nicht lache. Dieser Leserbrief bei ‚Hart, aber fair’
war fingiert. Von einem Neidbürger, vermutlich einem Landarzt, der
immer noch an den tollen Lehrer-Halbtagsjob glaubt!“
Gabriele Frydrych
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