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BILDUNG
Karl-Heinz Platte
Mitglied der nds-Redaktion
Buchvorstellung
Bildung braucht Gerechtigkeit
Kein Buch der letzten Jahre zum The-
ma Bildung und Erziehung hat mich
so beeindruckt. Es müsste Pflichtlek-
türe werden für Politiker und Päda-
gogen, für Eltern und Erzieher, ja
eigentlich für alle, die für Kinder ver-
antwortlich sind oder mit ihnen zu
tun haben. Sicher ein frommer – und
unrealistischer – Wunsch!
Die Autorin begleitet vier Kinder von ihrem
dritten Lebensjahr bis zum Erwachsenwerden.
Vier Kinder, im selben Kindergarten und
eng befreundet. Vier Jugendliche, auf ver-
schiedenen Schulen und in unterschiedlichen
Lebenssituationen, kaum noch gemeinsame
Interessen, kaum noch Kontakt miteinander.
Vier „Prototypen“ mit erfundenen Namen,
aber durchaus real.
Die Protagonisten
Alex
, Allmendingers Patenkind, stammt
aus „bildungsbürgerlichem“ Elternhaus. Er
bekommt bei Schwierigkeiten genug Hilfe
und Förderung und kann sich so als Einziger
seinen Fähigkeiten entsprechend entwickeln.
Erkan
, seinem Altersgenossen Alex an In-
telligenz und Fähigkeiten zumindest gleich,
muss nach einem guten Realschulabschluss
die Erfahrung machen, dass allein sein tür-
kischer Name die Lehrstellensuche sehr er-
schwert. Er bleibt hartnäckig und beginnt
schließlich die Ausbildung zum Kfz-Mecha-
troniker. Vielleicht wird er danach sogar die
Meisterprüfung ablegen und studieren.
Laura
erfährt, dass mit „ihrer Klassifizierung
eines sonderpädagogischen Förderbedarfs eine
Stigmatisierung und Segregierung einhergehen.“
Mit der liebevollen Unterstützung durch ihre El-
tern wird sie vielleicht doch ihren Weg machen
und nicht in einer Behindertenwerkstatt („welch
eine bedrückende Bezeichnung“!) landen.
Jenny,
Kind einer Alleinerziehenden, eröff-
nete sich im Integrationskindergarten eine neue
Welt. Doch mit der Einschulung muss sie wie-
der zurück in ihr Hochhausviertel. Sie schafft
nach großen Schwierigkeiten den Hauptschul-
abschluss und wird möglicherweise sogar ihren
Traumberuf (Krankenschwester) erreichen.
Probleme deutscher Bildungspolitik
An diesen vier Kindern, jetzt Jugendlichen,
macht Allmendinger die Probleme der bun-
desdeutschen Bildungspolitik fest. Ihre Ana-
lyse und die sich daraus ergebenden Konse-
quenzen untermauert sie mit einer Vielzahl
von Verweisen auf handfeste empirisch-wis-
senschaftliche Untersuchungen. Ihre Kritik ist
dabei durchaus positiv, ihre Vorschläge wären
praktikabel.
Appetithäppchen
Es würde über den Rahmen dieser Buchvor-
stellung hinausgehen, die vielfältigen Aspekte
im Einzelnen und ausführlich zu diskutieren.
Lassen wir deshalb die Autorin durch Ori-
ginalzitate – mehr zufällig als systematisch
zusammengestellt – selbst zu Wort kommen.
u
„Je früher wir im Lebensverlauf in Bildung
investieren, um so höher sind die Erträge.
Die sehr robusten Ergebnisse zeigen über
viele Geburtsjahrgänge hinweg, dass sich
ein Kita-Besuch positiv auf den Bildungs-
weg von Kindern und Jugendlichen aus-
wirkt.“ (Seite 53)
u
„Inklusion heißt, dass sich die Schule an
die verschiedenen Bedürfnisse aller Schüler
anpasst. Diese Schulen bewerten die vor-
handene Vielfalt positiv und bauen sie in
ihr Lehrkonzept ein. So führt eine inklusive
Schule dazu, dass die Lernchancen für alle
Schüler in ihrer Vielfalt verbessert werden.“
(Seite 150)
u
„Drei Botschaften: Wir müssen Lehrer
ausbilden. Wir müssen mehr tun, um alle
Schüler früh mitzunehmen. Wir müssen
das Konzept der inklusiven Bildung aus-
reichend finanzieren und dürfen es nicht
als riesige Sparmaßnahme betrachten.“
(Seite 154)
u
„Bei gleicher Leistung in den standadisier-
ten Tests und bei gleichen Noten erhalten
Kinder aus niedrigeren Sozialschichten mit
deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit als
Kinder aus besser gestellten Elternhäusern
eine Gymnasialempfehlung.“ (Seite 82)
u
„Drei Herausforderungen: Leistung wird un-
gerecht bewertet, Chancen werden unge-
recht verteilt und absolute Bildungsarmut
wird nicht verhindert.“ (Seite 222)
u
„Die frühe Trennung wirft lange Schatten
auf den Lebenslauf und lässt sich kaum
noch korrigieren.“ (Seite 222)
u
„Kann man angesichts dieser vielfältigen
Verzerrungen noch guten Gewissens für ein
dreigliedriges Schulsystem sein?“ (Seite 82)
u
„Wir leben in einer Kleinstaaterei. Die
Versorgung mit Kinderkrippen ist ebenso
uneinheitlich wie der Ausbau von Ganz-
tagskindergärten oder die qualitativen Vor-
gaben für beide Bereiche.“ (Seite 128)
u
„Bildungspolitik ist eine Querschnittsaufga-
be, die fast alle Politikbereiche, insbeson-
dere aber die Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-
und Sozialpolitik berührt“ (Seite 225).
u
„DieentscheidendenHerausforderungen sind:
Inklusion, Heterogenität und individuelle För-
derung. Um diese Ziele flächendeckend an-
zugehen, braucht es ein gemeinsames und
aufeinander abgestimmtes Vorgehen – eine
nationale Bildungsstrategie.“ (Seite 227).
Karl-Heinz Platte
Pantheon Verlag München; 2012; 14,99 Euro;
ISBN 978-3-570-55187-5