Nachgefragt
unesco heute online: Hält inklusion unserer
gesellschaft den Spiegel vor?
Ute Erdsiek-Rave: Wir leben in einer Gesell-
schaft, die immer heterogenerwird. Ichbinüber-
zeugt, dass Inklusion eineGegenbewegung sein
kann. Sie betrifft nicht nurMenschenmit Behin-
derungen, sondern generell Gruppen, die von
Ausgrenzung bedroht sind und deren Chancen
auf gute Bildung gering sind. Wenn inklusive
Bildung konsequent und engagiert umgesetzt
wird, führt das dazu, dass jeder Menschmit sei-
nen Stärken und Schwächen angenommen und
gefördert wird. Davon profitieren alle und das
steigert die Qualität der Bildung insgesamt.
Auch der Effekt für unsere Gesellschaft ist nicht
zu unterschätzen. Wenn bereits Kinder Verschie-
denheit und Vielfalt als vollkommen normal
erleben, beugt das Ausgrenzung und Diskrimi-
nierung vor.
in vielen ländern Skandinaviens und Südeu
ropas gehört inklusive bildung bereits zum
Alltag.Waswirddort besser gemacht?
Die bildungspolitischen Debatten sind pragma-
tischer und weniger ideologisch als in Deutsch-
land. Die Schulsystemewurden in Skandinavien
schon vor Jahrzehnten auf langes gemeinsames
Lernen umgestellt. Förderschulen sind dort so
gut wie abgeschafft. In Italien und Spanien
sind die Voraussetzungen ebenfalls recht gut.
Die Konzepte lassen sich jedoch nicht eins zu
eins übertragen. Die Rahmenbedingungen un-
terscheiden sich erheblich. Wir müssen unseren
eigenenWeg finden.
Wie lange wird es dauern, bis deutschlands
bildungssystemwirklich inklusiv ist?
Das wird davon abhängen, wie viel politischer
Wille da ist, wie stark sich der Druck von den
Betroffenen entwickelt und wie sich die Bewe-
gung aus den Schulen heraus fortsetzt. Ich bin
da optimistisch. Bei den Menschen mit Behin-
derungen hat sich bereits einiges getan. Noch
in den 1950er Jahren hatten sie kein Recht auf
Bildung. Glücklicherweise hat damals ein erstes
Umdenken stattgefunden. Die Schulpflicht und
die Sonderschulen für behinderte Kinder wur-
den eingeführt. Seit den 1970ern gab es dann
eine Bewegung von Eltern und Pädagogen, die
forderten, behinderte Menschen in die Gesell-
schaft zu integrieren. Und heute redenwir über
Inklusion. Bis vorwenigen Jahrenwar der Begriff
in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Allerdings
räumt die UN-Konvention über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen keine beliebigen
Wartefristen ein. Sie ist eine Verpflichtung.
Auszüge aus „Inklusive Bildung beugt Ausgren-
zungvor“.Dasgesamte Interview istnachzulesen
unter
inklusion. Mit freundlicher Druckgenehmigung
vonDeutscheUNESCO-Kommission e .V.
ute ErdsiekRave
Vorsitzende des
Expertenkreises „Inklusive
Bildung“, DeutscheUNESCO-
Kommission e.V.
Foto: U. Erdsiek-Rave
inklusivebildung indenniederlanden
Angepasstes Bildungswesen
die Algemene Onderwijsbond ist die
größte bildungsgewerkschaft in den
niederlanden. Alle beschäftigten aus
dembildungssektor –bisaufdieHoch
schulen – sind dort organisiert. Über
die schulische inklusion in ihrem land
referieren Jan Willem van Katwijk
und Monique van driel beim gEW
inklusionskongress am 27. Mai 2014.
die nds sprach mit ihnen über zufrie
deneKinder und Schulkooperationen.
Foto: gettyimages.de/Ingram Publishing
nds: laut einesuniCEFberichts sindnieder
ländische Kinder die zufriedensten im Ver
gleich von29nationen – auch imbildungs
bereich.Was sinddieHauptgründe dafür?
Monique van driel:
Kinder können hier ein-
fach Kind sein – ohne zu hohen Leistungs-
druck. Die Eltern nehmen ihre Kinder, deren
Wünsche und Sorgen sehr ernst. In ärmeren
Stadtgebieten unterstützt die Schule intensiv,
so dass alle Kinder die Chance haben, ihre
Ziele zu erreichen.
JanWillem vanKatwijk:
Imniederländischen
Bildungssystem liegt der Fokus nicht auf dem
Streben danach, immer die oder der Beste zu
sein oder die besten Noten zu bekommen. Es
geht darum, auch imUnterricht eine gute Zeit
zu haben.
WelcheMaßnahmenhatdieniederländische
Regierung für die schulische inklusion nach
der unKonvention2009 eingeleitet?
van Katwijk:
Das neue Schulsystem nennt
sich „passend onderwijs“, was so viel heißt
wie „angepasstes Bildungswesen“. In diesem
System kooperieren die Schulen miteinander
und selten müssen nur besonders schwierige
SchülerInnen eine Sonderschule besuchen.
van driel:
Die Regierung hat nach der UN-
Konvention Gesetze zur Inklusion verabschie-
det. Die Schulen müssen miteinander koo-
perieren, um den Kindern die Erziehung zu
bieten, die sie benötigen. Bisher erhielten die
Schulen zusätzliche finanzielle Unterstützung
und spezielle Lehrkräfte für förderbedürf-
tige Kinder. Jetzt kommt das Geld direkt den
Schulkooperationen zugute.
War schulische inklusion bereits zuvor ein
Thema indenniederlanden?
vandriel:
Früher gingen förderbedürftigeKin-
der auf eine Sonderschule, die auf ihreArt der
Behinderung spezialsiert war.
van Katwijk:
Nur für Kinder mit Down-Syn-
drom gab es zuvor schon eine Art schulische
Inklusion, da die Eltern sich wünschten, dass
ihre Kinder einfach normal unterrichtet wer-
den. Sie besuchten lediglich bis zumAlter von
zehn Jahren eine Sonderschule.
Was sehen Schulkonzepte für inklusion für
Regelschullehrkräfte und Sonderpädago
ginnen vor?Welchebesonderheitengibt es?
van driel:
Nach wie vor sind die Klassengrö-
ßen ganz unterschiedlich: 15 bis 40 Schüle-
rInnen pro Klasse. Und momentan gibt es
auch noch keine regelmäßige Unterstützung
für Regelschullehrkräfte im Unterricht. Die
sogenannten ambulanten Lehrkräfte helfen
mehreren Schulen gleichzeitig, oft auch nur
aus der Ferne. Interne BegleiterInnen sind
in den Schulen für die Lehrkräfte zuständig,
nicht aber für die Kinder. Jede Schulkoopera-
tion hat ihre eigenen Regeln und es ist nicht
einfach festzustellen, welches Kind, welche
Unterstützung benötigt. Die Gewerkschaften
fordern einheitliche Regelungen, doch bisher
hat die Regierung diese nicht geschaffen.
Die Fragen für die nds stellte SherinKrüger.
Übersetzt aus dem Englischen.
GEW-Inklusionskongressam27.Mai 2014 inBochum
ProgrammundAnmeldung:
15
nds 42014