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nds 1-2013
Märchen) gehören zum modernen Schreibreper-
toire der Grundschule. Ebenso formulieren Kinder
schriftlich eigene Gedanken (Klassentagebuch,
Lerntexte, Forscherhefte).
Was also jetzt als „Stufen“ für die Testauswer-
tung dient, sind in der Unterrichtswirklichkeit
Strategien beim Lesen und Schreiben, die in
einem anregungsreichen Unterricht von Anfang
an entwickelt werden.
Das ist keine neue Behauptung, sondern
schon in den vergangenen Jahren vielfach disku-
tiert und empirisch belegt. So zum Beispiel das
Fazit von Weinhold: „Texte aus dem ersten und
aus dem zweiten Schuljahr verblüffen immer wie-
der darüber, was Schreibanfänger textuell schon
alles leisten können, wenn sie entsprechend
herausfordernde Aufgaben bekommen, und das,
obwohl sie noch viel lernen müssen.“ (Weinhold
2008, S. 24). Wenn dies bei VERA und Co. nicht
erkannt wird, dann ist das ein selbst erzeugter
Effekt: Es wird eben nur das gesehen, was bei der
Testkonstruktion vorab festgelegt wurde.
Die „Lernarrangements“ sind
fremdbestimmt
In den unterrichtspraktischen Beispielen geht
es bei KompAss im Kern um „Lernaufgaben“,
die „besonders gewinnbringend im Unterricht
umgesetzt werden, wenn sie in Lernarrange-
ments eingebunden werden.“ (S. 70) Genau
dies ist dann auch die Reihenfolge: zuerst die
Lernaufgaben, orientiert an den Kompetenzstu-
fen, dann die Einbettung in Lernarrangements
mit Einstiegsimpuls, Arbeitsformen selbsttätigen
Lernens und Ergebnispräsentation. Ein Beispiel
ist die Lernaufgabe: „Wir suchen Informationen
zum Klassenfahrtziel Norderney“ (S. 38). Hierbei
geht es um den informierenden Umgang mit
Texten und Medien, zeitgemäß mit Internetre-
cherche. Dazu werden die in Frage kommenden
Fähigkeitsniveaus vorgestellt.
Als „Lernarrangement“ wurde eine Jugend-
herberge auf der Insel Norderney gewählt, die
eine umfangreiche und informative Homepage
hat. Als Einstiegsimpuls gilt eine fiktive 4. Klasse,
die einige Tage dort in der Jugendherberge ver-
bracht hat und nun ihre Patenklasse 2 zu einem
Inselaufenthalt anstiften will. Als Ergebnisprä-
sentation gilt ein Plakat mit den Kerninformati-
onen zur Jugendherberge (S. 38 ff., S. 75 ff.). Das
Ganze erhält den Titel „In die Praxis eintauchen.“
Wie aber sieht diese Praxis aus? Eine fiktive
4. Klasse soll Zweitklässler für die Fahrt zur
fernen Insel begeistern und zwar mit einem
Plakat über Details zur Jugendherberge. Kein
Wort über den Sinn der Fahrt für Zweitklässler,
über die Kosten pro Kind für Bus, Fähre, Voll-
pension bei fünf Tagen von schätzungsweise
250 Euro, über die Elternmitsprache, über die
Schwierigkeiten einer Internetrecherche von
Grundschülern und anderes mehr.
Im richtigen Leben hätten die Viertklässler
ihren Patenkindern in Klasse 2 längst von ih-
rer Klassenfahrt erzählt. Wenn die Zweitklässler
tatsächlich für diese Fahrt begeistert werden
sollten, dann würde nicht ein dürres Info-Plakat
über die Jugendherberge erstellt, sondern die
Viertklässler würden von ihren Eindrücken und
Erlebnissen auf der Insel erzählen, mitgebrachte
Muscheln ausstellen, Fotos zeigen und anderes
mehr. „Selbstreguliertes Lernen“ – so der An-
spruch – erfordert authentische Situationen,
Entscheidungen der Kinder, eine anregende und
unterstützende Lernumgebung, nicht aber kons-
truierte „Lernarrangements“.
Bei einem anderen Lernarrangement geht
es im Kern der Lernaufgaben um fünf Leseauf-
gaben zu Kinderbüchern, den Sams-Büchern
von Paul Maar (S. 82). Hier soll das selbstregu-
lierte Lernen durch individuelle Wahl der Auf-
gabe realisiert werden. Dazu haben die Kinder
zunächst „eine Selbsteinschätzung hinsichtlich
ihrer Lesefähigkeit vorgenommen“ (S. 83). Die
Selbsteinschätzung erfolgt auf einem Bogen,
der „sich orientiert an den Beschreibungen der
fünf Fähigkeitsniveaus im Bereich Lesen“ (S. 83).
Was meinen wohl Viertklässler bei der angeblich
schwierigsten Könnensangabe: „Ich kann vor
dem Lesen sagen, was ich erwarte, was in dem
Text steht.“ (S. 124)?
Natürlich können das die Kinder. Aber es ist
abhängig davon, ob sie Interesse am Textinhalt
und Vorwissen dazu haben. Dann sollen die
Kinder aus den fünf nach den Fähigkeitsniveaus
konstruierten Aufgaben die für sie passende aus-
suchen. Bei der eben zitierten Könnensangabe
ist dies die Aufgabe: „Den Anfang des Buches
‚Eine Woche voller Samstage‘ lesen und sich
überlegen, wie die Geschichten im zweiten Buch
weitergehen könnte.“ (S. 124) Dies also ist das
„selbstregulierte Lernen“: fragwürdige Selbstein-
schätzung als Grundlage für die Wahl von vorge-
gebenen Aufgaben. Im modernen Leseunterricht
mit Kinderliteratur lesen Kinder frei, berichten
über Gelesenes, schreiben Lesetipps, führen ein
Lesetagebuch, gestalten eine Lesekiste und stel-
len sie vor. Dabei sind die hier vorgegebenen Lern-
aufgaben integriert, auch von den Kindern selbst
entwickelt. Alle Strategien wie informierendes,
Horst Bartnitzky
Grundschulpädagoge
überfliegendes, antizipierendes, inszenierendes
Lesen sind inbegriffen. Kinder lernen diese bei der
kooperativen Arbeit und der Lese-Kommunikation
mit- und voneinander. Sie bewältigen sie auf dem
ihnen möglichen Niveau. „Natürliche Differenzie-
rung“ heißt das in der Mathematik-Didaktik.
Bei KompAss wird linear gedacht. Wie die
Fähigkeitsniveaus als aufeinander aufbauende
Stufen vertikal konstruiert sind, so wird die
Unterrichtsplanung als horizontale Kette an-
gesehen: Lernvoraussetzungen – Lernaufgaben
– Lernarrangement. Das ist ein technizistisches
Verständnis von Bildung. Lernentwicklungen und
Unterrichtsgestaltungen verlaufen aber komplex:
Faktoren bedingen sich gegenseitig, Entwick-
lungen geschehen in Sprüngen, Kinder arbei-
ten zum selben Zeitpunkt auf unterschiedlichen
Niveaus, gute Aufgaben sind nur gut in einer
anregenden Lernumgebung.
Es gibt viel Informatives und Anregendes in
der Handreichung, viele Elemente modernen Un-
terrichts wie Lerngespräche, Selbstbeurteilung,
Lerntagebücher, Präsentationen (siehe z.B. S. 70
ff.). Entscheidend aber ist die testkonforme und
fremdbestimmte Ausrichtung dieses KompAsses.
Sie führt zu einer brisanten politischen Frage: Be-
stimmen die Bedingungen der Testkonstruktion
die Bildungsziele und nicht mehr der Landtag
und das Schulministerium? Werden die Lehrplä-
ne und die Bildungsstandards damit Makulatur?
Horst Bartnitzky
Literatur
Weinhold, Svenja (2008): Texte schreiben
(Schriftliche Kommunikation) In: Jürgens, Eiko/
Standop, Jutta (Hrsg.) Taschenbuch Grundschule.
Band 4: Fachliche und überfachliche Gestaltungs-
bereiche. Schneider Hohengehren: Baltmannsweiler
Bremerich-Vos, Albert/Granzer, Dietlinde/ Köl-
ler, Olaf (Hrsg.) (2008): Lernstandsbestimmung im
Fach Deutsch. Gute Aufgaben für den Unterricht.
Beltz: Weinheim und Basel
Ministerium für Schule und Weiterbildung NRW
(Hrsg.) (2012): KompAss – Kompetenzorientierte Auf-
gaben für das selbstregulierte sprachliche Lernen im
Fach Deutsch der Grundschule. Frechen: Ritterbach
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