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bildung
Teaching to the test
Seitdem Leistungsstudien und Vergleichsar-
beiten Eingang in Schulen gefunden haben,
lässt sich wie in den USA eine Entwicklung
in der Unterrichtspraxis beobachten, die mit
dem Begriff „teaching to the test“ um-
schrieben werden kann. Aber bald zeigten
sich auch negative Auswirkungen in einem
entsprechend ausgerichteten Unterrichtskon-
zept, das sein Angebot auf die vorbereitende
Beschäftigung mit geklonten Testaufgaben
auslegt oder Auswahlantworten im Multiple-
Choice-Verfahren zur Bearbeitung anbietet,
um die SchülerInnen so auf die anstehenden
Leistungserhebungen und Vergleichsarbeiten
vorzubereiten. Dadurch wird der Unterricht
auf die Ebene kurzfristig reproduzierbarer
Wissensbestände im jeweiligen Schulfach re-
duziert. Ein solcher Umgang mit den Kerncur-
ricula scheint kontraproduktiv zu sein.
Vision einer neuen Steuerung
Ein Vergleich der beiden Expertisen zur
Bildungsforschung des BMBF aus den Jahren
2003 und 2008 bestätigt den Trend hin zu
einer empirisch abgesicherten und (betriebs-
förmig) organisierbaren pädagogischen Ratio-
nalität in Bildungseinrichtungen.
Die „Vision pädagogischer Bildungspro-
zesse“ (2003) ist in die bildungspolitische
„Vision einer neuen Steuerung“ (2008) trans-
formiert worden. Die soziale Selektivität von
Kompetenzen als Ausdruck individueller Fä-
higkeits- und Fertigkeitsprofile der Akteure ist
unübersehbar. Soziale Disparitäten machen
nach wie vor den Schulerfolg der Schüle-
rInnen vom Herkunftsmilieu abhängig. Inzwi-
nds-Reihe: Bildung und Demokratie
Strukturwandel der Bildung
Die 2010 veröffentlichten Ergebnisse der vierten PISA-Schulleistungsver-
gleichsstudie wurden in Deutschland bildungspolitisch auf dem Hintergrund
der im letzten Jahrzehnt implementierten Qualitätssicherungssysteme be-
wertet, deren Instrumente von der Vorstellung organisierbarer pädagogischer
Rationalität geprägt sind. Der dahinterstehende ökonomisch orientierte Her-
stellungsimperativ von Bildung geht auf zwei Fehleinschätzungen zurück.
Erstens: Lernen könne über die Standardisierung schulischer Leistungsan-
forderungen steuerbar und überprüfbar gemacht werden. Zweitens: Dies
müsse zwangsläufig die Qualität der Unterrichts- und Schulentwicklung in
Deutschland verbessern. Beiden Annahmen muss widersprochen werden.
schen fordern in städtischen Ballungsräumen
Jugendliche aus Einwanderungsfamilien kre-
ative pädagogische Lösungsansätze heraus.
Fragen der Gleichheit beziehungsweise Un-
gleichheit von Bildungschancen, der sozialen
Gerechtigkeit im Bildungssystem Deutsch-
lands standen in den 70er Jahren im Fokus
kritischer Erziehung und Bildungsreformen.
In den 80er und 90er Jahren verschwanden
sie aus dem Blickfeld der Bildungsöffent-
lichkeit. Heute sind die gleichen Fragen im
Zusammenhang mit den PISA-Studien erneut
gesellschaftspolitisch brisant geworden. So
haben die Bundesrepublik und die Schweiz
im Vergleich mit anderen westlich geprägten
Bildungssystemen nicht nur einen hohen Grad
von Selektivität erkennen lassen. Die Studien
gaben auch den Blick frei auf die Sozial-
schichtung der Bildung bei gleicher kognitiver
Lernausstattung der Akteure.
Leistungsdruck und Auslese
Das Ziel aller Steuerungsmaßnahmen in
Schul- und Unterrichtsentwicklung gipfelt
zusätzlich in Strategien zur Qualitäts- und
Leistungsverbesserung im Schulsystem, die
zunehmend auch außerschulische Ressourcen
in Anspruch nehmen. So werden Vereinba-
rungen getroffen, das Engagement der Eltern
in Schulen zu regulieren und verlässlich zu
machen. SchülerInnen sowie Eltern werden
gezielt aufgefordert, Dienstleistungen privat
finanzierter Nachhilfeeinrichtungen in An-
spruch zu nehmen.
Ausdruck der Selektionsfunktion des Schul-
systems ist zum Beispiel die Übergangsaus-
lese in der Grundschule. Im Freistaat Bayern
nimmt fast die Hälfte der Viertklässler Nach-
hilfe. Schon ab dem zweiten Schulbesuchsjahr
machen sich Folgen des Leistungsdrucks der
vierjährigen Grundschulzeit angesichts später
zu begründender, manchmal auch zu erwar-
tender Schuleignungsprognosen bei Kindern
und Eltern als Stressfaktoren bemerkbar.
Bildung als nachhaltiger Prozess
Demgegenüber entkoppelt der Faktor
der Biografisierung schulischer Lernprozesse
Bildung von der Vorstellung des Primats
standardisierter Aneignung kanonisierten
Wissens im Lichte der Bildungsstandards.
In den Mittelpunkt der Betrachtung rückt
eine Schul- und Unterrichtskultur, wie sie in
integrierten Schulformen häufiger zu finden
ist: Sie erlaubt, Lernen und Bildung als nach-
haltige individuelle Entwicklungsprozesse zu
beschreiben.
Zum Weiterlesen
Hartmut König:
Strukturwandel der Bildung.
Eine kritische Zeitdiagnose
Verlag Barbara Budrich, 2012, 340 S.
ISBN: 978-3-8474-0014-1, 36 Euro
Hartmut Königs kritische Zeitdiagnose zeich-
net das erste Jahrzehnt der „Bildungsreform“
nach PISA nach. Das Buch bietet praxisbezo-
gene Orientierungshilfen für das Navigieren
zwischen bildungspolitischen Erwartungen
und pädagogischen Optionen in Schulen
und Hochschulen. Es enthält Impulse für die
Weiterarbeit an der Großbaustelle Struktur-
wandel des Bildungssystems.
Grundlage der folgenden Kritik sind zen-
trale erziehungswissenschaftliche Einwände
gegenüber der Eindimensionalität des pri-
mär steuerungsstrategisch ausgerichteten Bil-
dungsverständnisses. Sie deuten unter ande-
rem pädagogische Desiderate standardisierter
Bildung an, die einen anderen konkreten Blick
auf die Perspektivität von Lern- und Bildungs-
prozessen der Akteure erlauben.
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