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nds 1-2015
BildungundMigration
Durch die Umstellung des politischen Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland
auf ein eher republikanisches Staatsbürgerschaftskonzept und aufgrund der erst zu Beginn des
21. Jahrhunderts einsetzenden, offiziellen Anerkennung der gesellschaftlichenMigrationstatsa-
che ist es möglich geworden, dass Fragen pädagogischer Professionalität in der Migrations-
gesellschaft inzwischen als bedeutsame Querschnittsanforderung an pädagogisches Handeln
begriffen werden – dieses Heft ist ein Zeichen dessen. So bedeutsam und begrüßenswert dies
ist, so problematisch ist allerdings die Art und Weise, wie dieser Zusammenhang nicht selten
zum Themawird.
Der öffentliche Diskurs konzentriert sich unter der normativen, freilich vagen Hinsicht „Inte-
gration“ weitgehend auf eine Frage: Wie können Bildungsdefizite von „Menschen mit Migrati-
onshintergrund“ ausgeglichenwerden?Dadurch trägt derDiskurs zur Bestärkungeines Schemas
bei, das nicht nur überaus grob zwischen zwei Gruppen unterscheidet – Menschen mit und
ohne „Migrationshintergrund“. Vielmehr erfindet er diese Gruppen und dethematisiert damit
paradoxerweise die unterschiedlichenmigrationsgesellschaftlichen Positionierungen. Der so ge-
führteDiskurs bestätigt dienicht nur abwegige, sondernauchgefährlicheVorstellung, dass jene
„mit Hintergrund“ potenziell defizitäreWesen seien, jene „ohneHintergrund“ nicht.
Bildungskonzepte revidieren
Bei der Frage nach dem, was sich imHinblick auf Fragen von Bildung in der Migrationsge-
sellschaft ändern sollte, geht es nicht darum, Menschen, die als „mit Migrationshintergrund“
gelten, zu fokussieren (und damit zu erfinden). Diese ausländerpädagogische, auf Förderung
und Defizitkompensation ausgerichtete Zielgruppenorientierung wird zwei Erfordernissen nicht
gerecht: Erstens müssen die notwendigen Veränderungen im Feld Migration und Bildung im-
mer als notwendige Veränderungen der Bildungsinstitutionen gedacht und konzipiert werden.
Zweitens geht das komplexe Feld Migration und Bildung mit Anforderungen einher, die alle
SchülerInnenbetreffen – nicht allein solche, die als „mitMigrationshintergrund“ gelten. In einer
Gesellschaft, die in ihrer Pluralität zunehmend ins Bewusstsein rückt und die auch immer von
MigrantInnen geprägt und gestaltet wurde und wird, gehört die Revision von Bildungskonzep-
ten zu denwichtigsten gesellschaftlichenAufgaben der Gegenwart und Zukunft.
Bildungsbegriffneudenken
Im Zuge dieser Aufgabe ist der Bezug auf einen Bildungsbegriff vonnöten, der Bildung nicht
reduktiv als Prozess versteht, dessen Ziel und Rechtfertigung in der Formung gesellschaftlich
brauchbarer Subjekte besteht. Ein für migrationsgesellschaftliche Kontexte angemessener Bil-
dungsbegriff verweist vielmehr auf einen erfahrungsbegründeten und erfahrungsreflexiven
Prozess, in dem jede und jeder Einzelne lernt, sich zu kulturellen, gesellschaftlichen sowie poli-
tisch-ethischen Fragen zu verhaltenund indiesemHandelnundUrteilenauf dieVerhältnisse so
Einfluss zu nehmen, dass weniger Gewalt gegenAndere notwendig ist. Bildung ist demnach zu
verstehenals Vermögen, sich in einerWeise zugesellschaftlichenAnforderungen – etwadanach
ökonomisch brauchbar zu sein – zu verhalten, die amMaß der Minderung vonUngerechtigkeit
orientiert ist und diese Anforderungen nicht schlicht erfüllt. Ein so gedachter Bildungsbegriff
stellt eine Leitlinie auch zur Diskussion und zur Gestaltung des Zusammenhangs vonMigration
undBildung dar.
Paul Mecheril
Prof. Dr. Paul Mecheril
Institut für Pädagogik,
ArbeitsbereichMigration
undBildung, der Carl
vonOssietzkyUniversität
Oldenburg
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