Jugendarmut
Yvonne Ploetz (Hg.)
Beiträge zur Lage in Deutschland
320 S., ISBN 978-3-86649-484-8,
Budrich-Verlag, 10/2012, 33 Euro
Die Verarmung großer Teile junger Men-
schen nimmt zu. Welche politischen Instru-
mente sind denkbar, um diesen Jugend-
lichen (wieder) eine Zukunft zu eröffnen?
Die AutorInnen setzen sich mit Ursachen
und Auswirkungen von Jugendarmut in
der Bundesrepublik auseinander und dis-
kutieren Auswege. Beiträge von: Ronald
Lutz, Hans-Peter Michels, Christoph Butter-
wegge, Max Koch, Werner Seppmann und
vielen anderen.
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Das Meer im Nebel
Muñoz, Vernor
Bildung auf dem Weg
zu den Menschenrechten
95 S., ISBN 978-3-86649-374-2,
Budrich-Verlag, 10/2012, 9,90 Euro
Vernor Muñoz begreift „Bildung als Men-
schenrecht" als Übergang der Menschheit
vom patriarchalen Gesellschaftsrahmen hin zu
einer universellen Kultur der Menschenrechte.
Der langjährige UN-Sonderberichterstatter für
das Recht auf Bildung schlägt deshalb vor,
Qualität und Wirkung der Bildung als Ele-
mente der Entwicklung einer sozialen Sprache
und Verfasstheit aufzufassen, die dem Leben
seine Würde bewahrt. Unbedingt lesen!
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nds 10-2012
den Hartz-IV-Regelsätzen) für alle Transferleis-
tungsbezieherInnen zu gewährleisten, tritt er
dieses Verfassungsgebot ausgerechnet bei
jungen Menschen mit Füßen.
Extrem hart trafen die Leistungskürzungen
junge Menschen, die von zu Hause ausziehen
und als Arbeitsuchende mittels der Grund-
sicherung nach dem SGB II lieber eine eigene
Bedarfsgemeinschaft gründen wollten, als im
Haushalt ihrer Eltern zu verbleiben.
Heranwachsende und junge Erwachsene
wieder in der Abhängigkeit von ihren Eltern zu
belassen und ihnen per Mittelentzug die Mög-
lichkeit der Gründung eines eigenen Haus-
standes zu nehmen, ist einer wohlhabenden
und hoch individualisierten Gesellschaft, die
im Zeichen der Globalisierung berufliche Fle-
xibilität und geografische Mobilität von ihren
Mitgliedern verlangt, unwürdig.
Schulkinder und Jugendliche sind die beiden
einzigen Personengruppen, deren Hartz-IV-Re-
gelsatz seit 2009 nicht mehr erhöht worden ist.
Stattdessen wurde ihnen bei der gesetzlichen
Neuregelung von Hartz IV im Frühjahr 2011
ein „Bildungs- und Teilhabepaket“ im Wert von
250 EUR pro Jahr zugestanden. Dieses stellt
nicht bloß ein soziales Placebo, sondern auch
eine politische Mogelpackung dar. Denn neu
waren dabei nur 120 EUR pro Jahr, und was
sind schon 10 EUR im Monat mehr für ein
Schulkind oder einen Jugendlichen? Lässt sich
damit sein „Bedarf zur Teilhabe am sozialen
und kulturellen Leben in der Gemeinschaft“
(Gesetzestext) wirklich erfüllen?
Intervention und Prävention
Erforderlich ist ein Konzept, das unter-
schiedliche Politikfelder (Beschäftigungs-,
Bildungs-, Familien- und Sozialpolitik) mitei-
nander vernetzt und Maßnahmen zur Umver-
teilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen
einschließt. Durch separate und voneinander
isolierte Schritte, etwa höhere Transferleis-
tungen, sind die prekären Lebenslagen von
Jugendlichen nur partiell zu verbessern, ihre
tief sitzenden Ursachen aber schwerlich zu be-
seitigen. Ein integrales Konzept zur Verringe-
rung und Vermeidung von Jugendarmut muss
gesetzliche (Neu-)Regelungen sowie mone-
täre und Realtransfers umfassen. Individuelle
und erzieherische Hilfen, Fördermaßnahmen
für junge Menschen sowie Strukturreformen
sollten einander sinnvoll ergänzen und so
verzahnt werden, dass möglichst wenig Rei-
bungsverluste zwischen den verschiedenen
Institutionen und Trägern entstehen.
Aufgabe der Pädagogik –
Verantwortung der Schulen
Eine bessere, die Schule weniger auf soziale
Selektion ausrichtende, Bildungspolitik wäre
ein wichtiger Baustein zur Bekämpfung der Ar-
mut junger Menschen. Die durch Jugendarmut
verstärkte Chancenungleichheit in der Gesell-
schaft bildet eine zentrale Herausforderung für
die Schule. Da eine soziale Infrastruktur weit-
gehend fehlt, liegt hier – neben der notwen-
digen Erhöhung monetärer Transfers zu Guns-
ten sozial benachteiligter Jugendlicher – ein
wichtiger Ansatzpunkt für Gegenmaßnahmen.
Ganztagsschulen hätten einen pädagogisch-
sozialen Doppeleffekt: Einerseits könnten von
Armut betroffene oder bedrohte Jugendliche
systematischer gefördert werden als bisher, an-
dererseits könnten ihre Eltern leichter als sonst
einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen, was
sie finanzielle Probleme besser meistern ließe.
Durch die Ganztags- als Regelschule lassen
sich soziale Handicaps insofern kompensieren,
als eine bessere Versorgung der Kinder, eine ge-
zielte Unterstützung vor allem leistungsschwä-
cherer SchülerInnen bei der Erledigung von
Hausaufgaben und eine sinnvollere Gestaltung
der Freizeit möglich wären.
Ohne mehr Sensibilität für gesellschaftliche
Spaltungs- und massive Verarmungstendenzen
im Gefolge der globalen Finanz- und Weltwirt-
schaftskrise wird es keine Solidarität mit armen
Jugendlichen geben. Das Thema „Kinder- und
Jugendarmut“ muss im Rahmen der Lehreraus-
bildung stärker berücksichtigt werden. Das Ar-
mutsthema sollte auch stärker als bisher Teil der
Curricula werden, und zwar nicht mehr nur be-
zogen auf Not und Elend der sog. Dritten Welt.
Zwar kann die Pädagogik eine konsequente
Politik gegen Armut nicht ersetzen, sie muss aber
dafür sorgen, dass diese Problematik trotz emoti-
onaler Barrieren und rationaler Bedenken auf die
Agenda gesetzt wird: Die weitgehende Tabuisie-
rung der Jugendarmut ist ein geistig-moralisches
Armutszeugnis für das reiche Deutschland (vgl.
Butterwegge, „Armut in einem reichen Land.
Wie das Problem verharmlost und verdrängt
wird", 3. Auflage 2012, Campus-Verlag).
Christoph Butterwegge
Prof. Dr. Christoph Butterwegge
Humanwissenschaftliche
Fakultät – Politikwissenschaft
Universität zu Köln