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nds 6/7-2016
Prekarisierung stoppen,
Geschlechterrollenüberdenken
Prekarisierung ist zu einem Schlüsselbegriff avanciert. Dochwas genau ist seit wann und für
wenprekär gewordenundwelche sozialen Folgenhat Prekarisierung?Das ist bislangumstritten.
Seitder Jahrtausendwende richtet sichderwissenschaftlicheBlickaufdie sozialpolitisch forcierte
Prekarisierung von Erwerbsarbeit und auf die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses, auf Refe-
renzfolie der 1960er und 1970er Jahre. Erweitert man die Perspektive über die Erwerbssphäre
hinaus, kann auch von einer Prekarisierung von Lebens- undGeschlechterverhältnissen oder gar
derGesellschaftgesprochenwerden. PrekäreBeschäftigung–Tätigkeiten inTeilzeit,mitniedrigen
Einkommen, geringfügige und nicht sozial abgesicherte, flexible und unsichere Beschäftigung
– gewannAufmerksamkeit, seit auchMänner vermehrt betroffen sind. Doch für Frauenwar pre-
käre Beschäftigung aufgrund ihrer Fürsorgezuständigkeit schon früher Normalität. Heute sind
68 Prozent der 4,17Millionen geringfügig Beschäftigten Frauen, auch Teilzeitbeschäftigung ist
eineweiblicheDomäne.
Belastungüber dasberufliche Lebenhinaus
Nun kennzeichnen nicht nur objektive Kriterien wie Einkommen, Befristung, Länge und
Lagerung der Arbeitszeiten – etwa Schichtarbeit oder Arbeit auf Abruf –, Arbeitsort undDauer
prekäre Beschäftigung, sondern auch deren subjektiveWahrnehmung und die weitergehenden
Perspektiven.AuchderHaushaltskontext istbedeutsam: EinbestimmtesEinkommenmag füreine
Person existenzsichernd sein, nicht aber, wennmehrere Personen zu versorgen sind. Schließlich
muss Prekarisierung im gesamten Lebenszusammenhang und in einer zeitlichen, biografischen
Perspektivebetrachtetwerden.DiesumfasstnebendemHaushaltskontext,dereineprekäreLebens-
lageauffangenoder erst erzeugenkann, dieverschiedenstenLebensbereiche: Fürsorge fürKinder
oderAngehörige,Wohnen,Gesundheit, Sinnstiftung, sozialeNahbeziehungen, Teilhabeundvieles
mehr.Damitkönnen sichnegativeFolgenvonPrekarisierung imgesamtenLebenszusammenhang
zeigen: Inder Erwerbssphäre sinddies etwageringeEinkommen, Anerkennungsdefiziteundeine
Verschlechterung der Arbeitsmarktchancen bis hin zuAbstiegsspiralen in der (Berufs-)Biografie.
Weiter gefasst gehen mit prekärer Beschäftigung oft eingeschränkte Handlungsmöglichkeiten
und -perspektiven einher, zumBeispielmit Blickauf Altersvorsorge, sozialeundgesellschaftliche
Teilhabe sowiePlanungsunsicherheiten inden verschiedenen Lebensbereichen, die sichüber die
Zeit ausweitenund verfestigen können. EineprekäreBeschäftigungssituation kannauch soziale
Nahbeziehungenbeeinflussen,beispielsweisewennsiedieBeziehungzurPartnerin, zumPartneroder
zudenKindernbelastetoderwennBetroffene sichvonFreundInnenundBekannten zurückziehen.
SchließlichkönnenauchdieMöglichkeit zurSelbstsorgeunddieGesundheitbeeinträchtigtwerden.
Chance für dieEmanzipation?
Nebenall diesenmöglichendesintegrativenFolgenvonPrekarisierungbetoneneinigeForsche-
rInnenaberauchemanzipatorischePotenziale.SokönntedieErosiondesNormalarbeitsverhältnisses
und des Ernährermodells egalitärereGeschlechterverhältnisse und neueMännlichkeitsentwürfe
jenseits der Erwerbszentrierung ermöglichen. Allerdings weiten prekär beschäftigte Männer in
der Regel nicht ihre Fürsorge- undHausarbeitstätigkeitenaus. Vielleicht aber könnten in (ferner)
Zukunft durchPrekarisierungüberkommene ungleicheGeschlechterrollenvorstellungenund ein-
engendeNormenbrüchigwerden. Um solcheemanzipatorischenEffekte zuermöglichen,müsste
jedochzuvordieökonomischeExistenzdurchPolitikeneinerEntprekarisierungvonBeschäftigung–
und von Fürsorgetätigkeiten – (wieder) sozial abgesichert werden.
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Prof. Dr. ChristineWimbauer
Humboldt-Universität zu
Berlin, Institut für Sozial-
wissenschaften, Lehrbereich
Soziologie der Arbeit und
der Geschlechterverhältnisse